Samstag, 15. Oktober 2011

Septembermärchen - Im Wunsch gefangen


Amahar, der Urzeitsänger
Udakar, der Schmied
Bodofila, die Maid der Lüfte
Bardaros, im Dienst des Bösen
Idefesom, der Große Geist

Im Wunsch gefang
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In einem fernen Land, hinter den Wellen des großen Meeres, lebten die Menschen einst glücklich und zufrieden. Herb duftende Kräuter wuchsen auf saftigen Wiesen, die für grasende Tiere Leckerbissen waren. Bunte Blumen umsäumten Flussbetten, in deren klarem Wasser muntere Fischlein sich tummelten.
Auf Feldern und Gärten angebaute Pflanzen gediehen prächtig. Auch die Bäume trugen schwer an reifem Obst oder Nüssen. Es war eine Freude, die Geschenke der Natur im September einzusammeln.
Nach der Ernte bedankten sich die Leute bei Idefesom, dem großen Geist, der sie vor allem Ungemach beschützt hatte. Ihm zu Ehren veranstalteten sie ein großes Fest.
Im Gemeindesaal stand eine runde Tafel, die sich unter der Last von aufgetürmten Feldfrüchten bog. Fröhliche Musik erklang und lud zum Tanzen ein.
Voller Missgunst beobachtete Bardaros, wie sich die Leute amüsierten. Er war ausgeschlossen worden. Da er im Dienst des Bösen stand, konnte er keine Dankbarkeit erwarten. Etwas musste geschehen, damit seine Existenz von den Sterblichen angemessen gewürdigt wurde. Mit einer List machte er sich das ausgelassene Treiben zu nutze.

Am nächsten Morgen, als noch alle Menschen friedlich schliefen, flüstere Bardaros ihnen zu, wie schön es doch wäre die Zeit anzuhalten und genüsslich auf dem Lager noch etwas länger liegen zu können. Nach dem arbeitsreichen Jahr hätten sie sich redlich etwas Ruhe verdient. Sie müssten es sich nur wünschen, er würde sich dem gerne annehmen. Eine Bedingung müsse er jedoch stellen:
Jeder, der an Idefesoms Fest teilgenommen hatte, müsse zur gleichen Zeit Bardaros Hilfe erbeten. Wenn nur einer fehle, könne sein Zauber nicht wirken.

Die Sonne ging auf und tauchte den Himmel in sanfte Pastelltöne. Ein Hahn kündigte den beginnenden Tag an. Verschlafen rieben sich die Leute ihre Augen, als sie aus den Häusern traten. An diesem Tag fiel es ihnen besonders schwer, mit der Arbeit anzufangen. Das nächtliche Angebot war zu verlockend gewesen. Auf den Straßen vernahm man aufgeregtes Reden. Jeder dachte an das Gleiche. Sehr schnell waren die Bürger sich einig.
Sie versammelten sich um den runden Tisch, auf dem noch Reste vom vergangenen Fest lagen und fassten sich an den Händen. Der Älteste von ihnen sprach laut vernehmlich:
„Bardaros erhöre unser Flehen. Wir wünschen uns mehr Zeit für die Familie. Ständig haben wir nur gearbeitet. Bitte hilf uns Bardaros.“

Nachdem der Spruch verklungen war, schauten sich die Menschen unsicher an. Nichts geschah. Kein Donnerhall erklang, keine Blitze zuckten aus heiterem Himmel auf die Erde nieder, keine Windböe rüttelte an wackeligen Fensterläden. Alles schien wie immer zu sein. Enttäuscht ging jeder nach Hause.

Edasne, Widakems Ehefrau, wollte Essen kochen, doch sie konnte im Herd kein Feuer entfachen. So sehr sie sich auch bemühte, die Flammen loderten nicht auf.
„Es ist wie verhext. Versuch du es mal, ich gehe derweil in den Stall, Kühe melken.“
Niemand kann sich vorstellen, welch ein Schreck in ihre Glieder fuhr, als sie den Stall betrat. Kein Geräusch war zu hören, die Tiere standen herum, als seien sie aus Gips gefertigt. Sie fraßen kein Heu und tranken nicht. Ihre Euter waren zwar zur Hälfte gefüllt, doch sie ließen sich nicht melken.
Mit dem leeren Eimer in der Hand stürmte Edasne in die Küche.
„Sag mir, von was wir jetzt leben sollen“, fauchte sie Widakem an.
„Es wird schon alles gut, hab nur Geduld. Irgendetwas findet sich immer. Wenn unser Vieh keine Milch mehr gibt, dann essen wir eben Feldfrüchte.“

Auf der Straße wurden immer mehr Stimmen laut. In jedem Haushalt gab es die gleichen Probleme. Alle Menschen versuchten Hilfe beim Nachbarn zu bekommen, aber der war genauso übel dran.
„Bardaros hat uns reingelegt, nur er kann helfen. Wir müssen ihn erneut anrufen“, entschieden die Bürger.
Plötzlich schrie eine Frau aus Leibeskräften. Sie zeigte zum Himmel.
„Die Sonne! Merkt denn keiner, dass sie nicht weiter zieht?“
„Unmöglich, was schwatzt Du da?“, erhielt sie als Antwort.
Doch alle schauten nach oben.
Tatsächlich. Die Sonne stand noch wie am Vormittag.
Hastig eilten alle Menschen in den Festsaal. Wie zuvor rief der Älteste den Zauberer an:
„Bardaros, ich bitte Dich, mache alles wieder rückgängig. Wir wünschen unser Leben wieder so, wie es heute Morgen noch gewesen war.“
Ein lautes Lachen erfüllte den Raum.
„War mein Zauber etwa nicht gut genug? Ihr habt Zeit gewünscht und die habe ich Euch gegeben. Ist es etwa meine Schuld, wenn die Sonne nicht weicht, kein Feuer zündet und …“
Sein grausiges Lachen ließ jeden vor Furcht erzittern.
„Und kein Wasser fließt?
Eure Pflanzen werden vertrocknen, weil auch die Brunnen versiegen. Noch habt ihr etwas zu essen, doch wie lange hält das vor? Ich werde mit Vergnügen zusehen, wie ihr in Euren Betten darbt, bis der Tod Euch erlöst. Und jetzt stört mich nicht mehr, ich habe etwas Besseres zu tun.“
Verzweifelt weinten die Frauen und ihre Männer schauten grimmig drein. Die Lage war aussichtslos. Das hatten sie sich wirklich nicht gewünscht.

Vor langer Zeit war Amahar, der Urzeitsänger im Ort erschienen und berichtete in seinen Weisen vom Schmied Udakar, der mit seinem gleichmäßigen Hämmern bestimme, wie viele Sekunden es brauche, bevor eine Minute verstrichen sei. Er galt als der wahre Zeitmesser, nach dem sich auch die Sonne richten würde.
Edasne hatte ihm aufmerksam zugehört, währenddessen die Leute ihn fortjagten und als Tunichtgut beschimpften, der sie nur von ihrer Arbeit abhalten wolle.
„Erinnert ihr euch noch, wie schändlich ihr ihn behandelt habt? Dabei sang er wundervolle Lieder.“
Die Angesprochenen sahen betroffen zu Boden und schämten sich für ihre damalige Tat.
„Wo finden wir diesen meisterhaften Schmied und wie können wir mit ihm Kontakt aufnehmen?“, wurde Edasne von allen Seiten her gefragt.
„Eigentlich gar nicht“, bedauerte sie.
„Er lebt in den Wolken und ist für Menschen unerreichbar.“
„Dann rufen wir seinen Namen. Wenn er uns hört wird er wissen wollen, was er für uns tun kann.“
„Das ist keine gute Idee. Dort wo er arbeitet ist es so laut, dass er sogar tosenden Sturm nicht wahrnehmen kann. Zuvor müsste er aufhören zu schlagen. Das wird er aber gewiss nicht tun, denn es ist seine Bestimmung.“
„Warum erzählst du dann von ihm, wenn wir doch nichts tun können? Macht es Dir Freude uns noch mehr zu quälen?“, schnauzten die Leute Edasne an.
„Niemand will Euch quälen, ausgenommen Bardaros. Denkt doch mal nach. Wenn wir auf Wolken keinen Halt finden, kann das doch Bodofila, die Maid der Lüfte für uns tun.“
Erstaunt sah einer den anderen an. Hätten sie damals nur Amahar, dem Urzeitsänger, besser
zugehört. Der Name Bodofila war ihnen unbekannt.
„Was ist, wenn wir damals Recht hatten und nichts von all dem stimmt?“
„Den Versuch, Bodofila anzurufen, wird es wohl wert sein. Oder hat jemand einen anderen Vorschlag?“
Auffordernd sah sich Edasne um. Keiner meldete sich zu Wort.
„Gut, dann lasst mich jetzt alleine. Ich werde mit der Maid sprechen und will niemand in meiner Nähe sehen. Bodofila ist nämlich sehr schüchtern und wenn sie sich bedrängt fühlt, dann kann sie ausgesprochen böse werden.
Glaubt mir, ist sie erst einmal richtig wütend geworden, dann lässt sie kein Haus unbeschadet stehen und knickt Bäume um, als seien sie Strohhalme.“

In der Nähe des Flusses setzte sich Edasne auf einen Stein. Dass es an ihrem Lieblingsplatz so traurig aussehen würde, hatte sie nicht erwartet. In dem wenigen verbliebenen Wasser lagen die Fische wie Kieselsteine auf dem Grund.
Mit Hilfe einer Zauberformel, die Edasne vom Urzeitsänger gelernt hatte, rief sie Bodofila herbei. Wenig später saß eine wunderschöne Frau mit langen blonden Haaren neben ihr.
„Warum hast du mich gerufen Menschenkind?“, wollte sie wissen.
Edasnes Augen waren voller Tränen.
„Sieh doch nur, die Fischlein. Alles Leben ist aus ihrem Körper gewichen.“
„Was ist geschehen?“, fragte Bodofila entsetzt.
„Das ist alles meine Schuld. Bardaros hat versprochen, dass ich mit meinem Mann länger als üblich im Bett liegen bleiben kann, ich habe es mir doch so sehr gewünscht. Aber dass er die Zeit anhält, Verderben über uns alle bringt und sogar diese unschuldigen Lebewesen erstarren lässt, das habe ich nicht gewollt.“
Bodofila sah Edasne schräg von der Seite an.
„Hast du alleine Bardaros angerufen?“
„Nein, wir alle waren es. Aber ich hätte von Amahar, dem Urzeitsänger wissen müssen, wie abgrundtief schlecht der Diener des Bösen ist. Deshalb trage ich alleine die Schuld an allem.“
Edasne weinte bitterlich.

Bodofila überlegte nicht lange.
„Mit Bardaros habe ich sowieso noch eine Rechnung zu begleichen, da kommt mir dieser Zwischenfall ganz gelegen. Vertraue mir, ihm werde ich das Handwerk legen.“
Bodofilas strahlendes Lächeln erwärmte Edasnes Herz.
Die Maid der Lüfte eilte zu ihrem Freund Udakar. Sie erzählte dem Schmied, Bardaros habe es geschafft, sein Hämmern in einem Dorf unwirksam zu machen.
„Was? Meine schwere Arbeit soll nutzlos sein? Na dem werd’ ich’s zeigen!“, schnauzte Udakar wütend. Er heizte das Feuer doppelt so stark an und schlug auf glühendes Eisen bis Funken sprühten.
Auf der Erde tobte ein Gewitter, dass die Sterblichen in Angst und Schrecken versetzte. Nur in der verzauberten Gegend bemerkt niemand etwas davon. Nichts trübte den strahlend blauen Himmel.
Die Maid der Lüfte schwebte übers Wasser, sammelte alle Wolkenberge ein und blies sie vors Angesicht der Sonne.
„He Bodofila, was machst du da, so kann ich doch keine Menschen mehr sehen.“
„Wenn du sie beobachten willst, dann rücke doch einfach zur Seite. Du hast schon viel zu lange hoch am Himmel gestanden. Hörst Du nicht, wie ungeduldig Udakar die Stunden schlägt?“
„Eigentlich hast Du Recht. Außerdem langweilt es mich, immer das Gleiche zu sehen. Sollen dicken Regenwolken ruhig meinen Platz einnehmen, ich bin müde geworden“, antwortete der Himmelskörper.
Vor Freude jauchzte Bodofila. Wenn die Sonne bereit war unter zu gehen, dann würde auch die Zeit aus ihrem Schlaf erwachen.

Als Bardaros merkte, dass sein Zauber wirkungslos geworden war, lief er vor Zorn rot an, wurde dicker und dicker, bis er zu feinem Staub zerplatzte.
Bodofila blies die Überreste auseinander und verteilte sie über die ganze Welt. Seitdem ist das Böse in jedem Land zu Hause. Doch nie wieder findet es zu seiner ehemaligen Stärke zurück.

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