Samstag, 15. Oktober 2011

Novembermärchen - Nebelhexe Schattira


Nebelhexe Schattira

Auf der breit gefächerten Treppe des von weißen Wolken umgebenen Luftschlosses, saß ein junges Mädchen. Sein Gesicht barg es in beiden Händen, damit niemand sehen konnte, dass es weinte. Langes, dunkelbraunes Haar fiel über zarte Schultern. Es trug ein fein gewebtes, mit tausend Wasserperlen besticktes Kleid. Kühle Frische umhüllte seine Gestalt.

Drinnen, im Palais, erklang heitere Musik. Das Jahr hatte zum Fest geladen und alle Monate waren gekommen. Nur der November fehlte noch, doch bei diesem fröhlichen Treiben vermisste ihn niemand.
Schattira, das Mädchen, hatte auch eine Einladung erhalten. Als es den Saal betreten wollte, schlug ihm eine feindliche Stimmung entgegen.
„Muss es unbedingt sein, dass du Nebelhexe unsere farbenfrohe Runde mit deinem scheußlichen Grau verunzierst? Hättest du dir wenigsten für diesen Anlass nicht etwas anderes anziehen können? Schau dich nur an, wie du aussiehst. Feucht, kalt und von Grund auf hässlich. Dein Anblick verdirbt mir jede Freude. Verschwinde, so nutzlose Wesen wie du, sind hier nicht willkommen“.
Die boshafte Anfeindung des Monats Mai verletzte das Mädchen zutiefst. Mit gesenktem Haupt verließ es das Gebäude, um sich auf der Treppe nieder zu lassen.
Ohne November war das Jahr unvollständig. Mochte der Mai sagen, was er wollte. Ihm konnte er den Eintritt nicht verwehren. Schattira war fest entschlossen auf den Nachzügler zu warten.
Sie hatte sich sehr auf das Fest gefreut und nun sollte sie ausgeschlossen werden. Im Schmerz versunken fiel ihr gar nicht auf, dass ein älterer Mann sie beobachtete.

„So jung und schon so traurig, das ist nicht gut. Warum gehst du nicht in den Festsaal, singst und tanzt mit den Anderen und erfreust dich deines Seins? Dafür hat das Jahr dich doch eingeladen.“
Schattira schaute erstaunt auf.
Neben ihr stand ein gepflegt aussehender Herr. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der hervorragend zu seinem weißen Haar passte. Dicht wachsende Locken umschmeichelten den sorgfältig frisierten Kopf. Kleine Falten umrandeten freundlich blickende, braune Augen.
„Sind sie der erwartete November?“, fragte die Nebelhexe.
Die warmherzig klingende Stimme des Fremden erweckte Hoffnung bei Schattira.
Als er sich formvollendet vorgestellt hatte, wäre ihm das Mädchen am liebsten um den Hals gefallen.
„Dann gehören wir ja zusammen“. jubelte es.
Der November wollte es zum Portal geleiten, doch die Nebelhexe zögerte.
„Da drinnen werde ich nicht geduldet. Meine Grauschleier lassen angeblich alle leuchtenden Farben verblassen“, sagte sie schamhaft. Außerdem sei ich so hässlich, dass mein Anblick den Gästen jede Freude am Fest nehmen würde.“
„Wer hat das behauptet?“, fragte der November ärgerlich.
„Der Mai“
„Und was sagt unser Gastgeber dazu?“
„Den habe ich nicht gesehen.“
„Er hat dich doch eingeladen – oder?“
Zur Bestätigung der Frage, hielt die Nebelhexe eine gold beschriebene Karte in Händen.
„Hier steht, dass er sich freuen würde, mich begrüßen zu können.“
„Na also. Dann gehen wir jetzt auch ins Schloss hinein. Unglaublich, was sich dieser Grünschnabel erlaubt hat. Glaubt wohl etwas Besseres zu sein, dabei ist er noch nicht einmal trocken hinter den Ohren.“
Doch Schattira war nicht davon überzeugt, im Festsaal gern gesehen zu sein. Wenn sie an die prachtvollen Roben dachte, mit denen sich die Begleiter der Gäste schmückten, kam sie sich schäbig vor und das sagte sie auch dem eleganten Herrn November.
„Oh Mädchen, glaube mir, du bist wunderschön.“
„Das sagen sie nur um mich zu trösten.“
„Schau her, ich beweise es dir.“
Sanfter Wind blies das Kleid der Nebelhexe auseinander, so dass es sich im ganzen Schlossgarten ausbreiten konnte.
„So feines Gewebe steht nur einer Prinzessin zu. Noch dazu sind deine Schleier mit unzähligen Perlen besetzt. Noch nie habe ich ein kostbareres Gewand gesehen.“
„Diese Perlen sind doch nur Wassertropfen, da ist nichts Besonderes dran.“
„Komm mit, ich muss mit dir etwas zeigen.“
Weil Monate überall auf der Welt zu Hause sind, können sie sekundenschnell von einem Kontinent, zum anderen wandeln. Schattira musste all ihre Zauberkräfte einsetzen, um mithalten zu können.
Herr November führte sie nach Südamerika, in die Atacama, die trockenste Wüste der Welt. Bis Regen kommt, vergehen sechs, manchmal sogar bis zu zehn Jahre. Jedoch ist die ganze Gegend von dichten Nebelschleiern durchzogen.
„Hier meine Liebe, wirst du wie eine Göttin verehrt. Ohne dein Tröpfchenkleid, gäbe es an diesem Ort kein Leben. Hör auf zu sagen Wasserperlen wären nicht kostbar.“
„Aber ich sehe doch so grau aus und verschlucke alle Farben“, wandte Schattina schüchtern ein.
„Papperlapapp. Raff deine Schleier zusammen, dann sind sie weiß.“
„Jedoch immer noch nicht bunt.“
„So schnell gibst du wohl nicht auf“, stöhnte Herr November.
„Komm mit. Ich habe versprochen dir zu beweisen, dass du schön bist und was ich gesagt habe, das halte ich auch.“
Sie machten vor einem Gotteshaus halt, wo sich Menschen versammelten, die zu einer Hochzeit eingeladen waren. Brausende Orgelklänge kündigten die Braut an. Jeder wollte ihr Kleid sehen und gebührend bewundern.
„Wer von all den Frauen ist deiner Meinung nach die Schönste?“
„Die Braut“, musste Schattira zugeben.
„Bist du dir ganz sicher? Ich meine, wir hätten da Rosa, Lindgrün und, ach ja, da hinten ist noch eine Dame in Gelb gekleidet.“
„Nein, nein, die Braut in Weiß sticht alle anderen aus.“
„Gut, dass das geklärt ist.“, sagte der November zufrieden.
„Können wir jetzt zum Palast zurück? Es ist unhöflich den Gastgeber warten zu lassen.“

Arm in Arm forderte das kühle Paar Einlass. Dieses Mal erschien der Schlossherr selbst an der Tür. Erleichtert hieß er den November willkommen. Die Nebelhexe begrüßte er sogar mit einem Handkuss.
Das Mädchen war glücklich.
Mit verliebten Blicken schaute es tief in die Augen seines klugen Begleiters. Nie wieder wollte es sich vom November trennen.
Als Beide auf dem Parkett einen mystischen Reigen eröffneten, schlossen sich zur Freude des Jahres auch die anderen elf Monate an.

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