Montag, 8. August 2011

Maimärchen - Die Maikönigin


Die Maikönigin.

Das Schloss der Maikönigin Marijella sah wundervoll aus. An seinen Mauern kletterte Blauregen hoch, dessen prächtige Blüten das Herz eines jeden erfreute.
Wenn die Sonne sanfte Wärme verbreitete, schlenderte die Maikönigin gern im Garten umher und genoss den Anblick des zart rosa blühenden Perlmuttstrauchs, der Sträucher, an denen dicht wachsende Schneebälle hingen, des duftenden Flieders und bewunderte die aufbrechenden Knospen der Kirschbäume. Doch nicht nur Bäume und Büsche fanden ihre Beachtung, auch die kleinen, unscheinbaren Pflanzen mochte sie gern.
Ganz besonders liebte sie die im angrenzenden Buchenwald versteckten Maiglöckchen.
Vögel bauten an ihren Nestern und zwitscherten munter. Auch das Summen der Bienen verriet emsiges Leben.
Marijella war glücklich über die Geschenke der Natur.
Auch ihr Volk wusste den Mai zu schätzen. Es gab viel zu tun, aber während der Arbeit hatten die Menschen immer ein Lied auf den Lippen.

Diese heitere Stimmung war Zakistro, dem Herrscher des Nachbarlandes, ein Dorn im Auge.
In seinem Reich fürchtete sich die Bevölkerung vor dem großen Zauberer. Er regierte mit unnachgiebiger Strenge, weil es ihm Freude machte, andere leiden zu sehen.
Selten drang Kinderlachen an sein Ohr. Sogar Vögel, die sein Land überflogen, verstummten.
Im Laufe der Zeit war sein Herz hart wie Stein geworden. Es ließ keine Gefühle mehr zu.
Wenn er jedoch ausritt und einen Blick in das Reich der Maikönigin warf, spürte er, dass ihm etwas fehlte. Dann wurde er zornig und ließ seinen Unmut an jedem aus, der ihm begegnete,
Aber nachts, wenn er sich zur Ruhe begab, quälte er sich mit dem Wissen herum, dass er etwas nicht hatte, das andere besaßen.

Eifrig suchte er in seinen Zauberbüchern nach einem Spruch, der ihn von diesem Mangel befreien würde, doch er fand nichts Passendes. Wütend schleuderte er die alten Meisterwerke in eine Ecke.
Dabei landete eines der Bücher weit geöffnet im Schmutz, und als Zakistro es aufheben wollte, stand auf einer Seite geschrieben:
Wen die Maikönigin küsst, dessen hartes Herz wird erweichen, damit Friede und Zufriedenheit wieder in ihm Einzug halten kann.
Es gab auch eine Bedingung.
Dieser Kuss müsse aus freiem Willen gewährt werden, keine Drohung dürfe gegen sie ausgesprochen werden, sonst sei der Zauber unwirksam.
Jahrhunderte lang hatte Zakistro gebraucht, um seine Herzensgüte loszuwerden. Er wollte sie auch nie wieder erlangen. Aber, wenn er so tat, als würde er tief bereuen, hätte die Maikönigin gar keine andere Wahl, als ihm zu helfen. Dann kam es darauf an, wessen Zauberkräfte stärker waren. Es würde einen Kampf zwischen Gut und Böse geben. Der Zauberer jubelte. Er war sich sicher, mit Tricks und Lügen dieses Duell für sich zu entscheiden.
Da er weder missgestaltet noch hässlich war, würde die Maikönigin ihm diesen magischen Kuss geben und damit ihr Schicksal besiegeln.

Am folgenden Tag stand Zakistro ungewöhnlich früh auf. Er zog sich die schönsten Kleider an, kämmte sein Haar, bis es glänzte, und sprühte sich mit wohlriechenden Düften ein. Als er sein Spiegelbild betrachtete, war er sehr zufrieden. Heute würde er der Schönste sein.
Wenig später hielt er eine Schatulle in der Hand. Ihr Inhalt konnte sogar eine Königin schwach werden lassen, dachte er.

Die Untertanen der Maikönigin waren sehr erstaunt, als sie den großen Zauberer erblickten. Sie hatten schon so viel von ihm gehört, dass sie ihn gleich erkannten. Trotz seiner Jugend sagte man ihm nach, dass er abgrundtief schlecht sein solle. Sein Stolz war bekannt, auch dass er schwarze Farben liebte. In seiner Nähe wurde es kalt. Dies war ein untrügliches Zeichen. Selbst bei strahlender Sonne begannen die Menschen zu frieren, wo immer er auftauchte.
Als Marijella ihn sah, trat sie ihm entschlossen entgegen.
„Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?“, fragte sie ohne Umschweife.
Zakistro verneigte sich tief vor der Königin.
„Verzeiht, Eure Majestät. Erweist mir die Gunst, dies mit Euch unter vier Augen zu sprechen.“
Marijella sah sich um. Tatsächlich umringten sie neugierige Zuhörer.
„Wie Ihr wünscht. Zwar habe ich keine Geheimnisse vor den Bewohnern meines Landes, jedoch, da Ihr hier fremd seid, erlaube ich Euch, mich in die Bibliothek zu begleiten. Dort sind wir ungestört.
Sie bot dem Zauberer ihren Arm. Gemeinsam betraten sie das Schloss.
Kaum waren sie allein, überreichte der Zauberer ihr sein Geschenk. Im Kästchen lag eine Kette aus funkelnden Diamanten. Königin Marijella warf einen kurzen Blick darauf und legte es achtlos zu Seite.
„Sagt mir, Meister der Magie, was ist Euer Begehren?“
Zakistro fiel es schwer, seinen Wunsch zu äußern. Er redete allerlei um den heißen Brei herum, lobte die Schönheit der Königin und wie weise sie regieren würde. Vergeblich suchte er nach den richtigen Worten.
„Erspart Euch die Schmeicheleien. Sagt gerade heraus, was Ihr wollt.“, unterbrach ihn Marijella.
„Fast nichts, nur einen Kuss von Eurer Gnaden. Wenn Ihr mir den gewährt, kann ich wieder Mitleid empfinden.“
Die Maikönigin wich einen Schritt zurück. Sie wusste zwar von ihrer Fähigkeit, musste sie jedoch nie zuvor anwenden.
„Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch von Grund auf ändern wollt, oder gibt es nicht genügend Frauen in Eurem Reich?“
„Frauen haben wir genug, aber nur Ihr könnt mir ein feinfühliges Herz geben.“
„Mir wurde berichtet, dass Ihr Eure Untertanen schlecht behandelt. Schaut Euch bei mir um. Hier werdet Ihr nur zufriedene Leute finden. Wir haben nichts gemeinsam. Ihr bürdet mir eine große Verantwortung auf. Nach meinem Kuss wird in Eurem Reich nichts mehr so sein, wie es war“
Da fiel Zakistro auf die Knie.
„Ich flehe Euch an. Mein erkaltetes Herz bringt Unglück über das ganze Land. Es liegt an Euch, dies zu ändern. Wie könnt Ihr an meiner Entschlossenheit zweifeln?“
„Nun denn. Wenn es unbedingt sein muss, bringen wir es schnell hinter uns.“
Der Zauberer spitzte triumphierend die Lippen. Doch als Königin Mariella ihm in die eiskalten Augen sah, konnte sie darin Gedanken lesen und erkannte Zakistros schändliche Absicht.
Bei diesem Kuss würde sie all ihre Zauberkräfte einsetzen müssen. In diesen schutzlosen Momenten konnte er Macht über sie erlangen und ihr ganzes Volk unterwerfen.
Marijella stieß einen Schrei aus und stieß sie ihn weit von sich.
„Elender Betrüger! Niemals werdet Ihr Euer Ziel erreichen. Wagt es nicht noch einmal mich zu belästigen und verlasst auf der Stelle mein Land!“
Zornig deutete sie auf das Kästchen mit dem Schmuck.
„Vergesst Euer Geschenk nicht, ich habe keine Verwendung dafür.“
„Das werdet Ihr noch bitter bereuen“, drohte Zakistro und machte sich auf den Heimweg.

Diese Demütigung wird ihr noch leid tun, zürnte Zakistro und rief seine getreuen Untertanen herbei, die „gestrengen Eismänner“.
Nacheinander wollten sie die Maikönigin aufsuchen und ihr Blütenmeer zerstören.
Am zwölften Mai suchte Pankratius das Land der Königin heim:
„Wenn's an Pankratius friert, so wird im Garten viel ruiniert“, dichtete er voller Schadenfreude und überzog die Erde mit einer dicken Raureifschicht.
Dies war die erste Missetat, weitere sollten folgen. Danach würde sich die Königin zweimal überlegen, ob es nicht doch besser sei, den Wunsch ihres Regenten zu erfüllen.

Am dreizehnten Mai versuchte Sevatius sein Glück. Er brachte starken Nachtfrost. Als er sein Unwesen trieb, warnten die Bäume ihre Königin:
„Servatius' Hund der Ostwind ist – hat manches Blümlein totgeküsst.“

Marijella weinte bittere Tränen. Am Tag darauf ging sie in den Garten und redete mit den Pflanzen. Sie erklärte ihnen, woher die plötzliche Kälte kam und was Zakistro von ihr verlangt hatte.
„Bleibt standhaft und macht Euch keine Sorgen“, trösteten sie die Blumen, obwohl der Frost ihnen arg zusetzte. „Unsere Wurzeln sind gut geschützt, wir haben schon Schlimmeres überstanden. Unsere Blüten kommen wieder, und dann sehen wir noch prächtiger aus.“

Nach Servatius musste das Land der Königin noch Bonifatius und die kalte Sofie ertragen.
Als auch die keinen unwiederbringlichen Schaden anrichteten, gab Zakistro endgültig auf.
Bald verkündete das fröhliche Klingeln der Maiglöckchen, dass die Kälte überstanden war.
Der Zauberer nahm seine Niederlage zähneknirschend hin. Im nächsten Jahr würde er es aufs Neue versuchen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen