Dienstag, 9. August 2011

Augustmärchen - Familienbande



Familienbande

Sonnenstrahlen drangen durch dichtes Laub und tauchten die Umgebung in goldfarbenes Licht. An manchen Sträuchern luden reife Früchte zum Naschen ein. Gelbe Wasserlilien umsäumten Flüsse.
Es war August.
Kaum ein anderer Monat ging so verschwenderisch um mit der Fülle von Farben und Gerüchen.
Am warmen Nachthimmel ging der Stern Sirius im Zeichen des Hundes auf. Im Volksmund hatte sich der Ausdruck Hundstage durchgesetzt, doch kaum jemand wusste, warum diese Jahreszeit so genannt wurde. Menschen genossen unbekümmert die heißen Tage des Sommers und weil Schulkinder Ferien bekamen, gönnten sich viele Familien ihren Jahresurlaub.

Mit sich und der Welt zufrieden lag der August in seinem Wolkenbett, als ein Unheil bringender Dämon sich ihm näherte.
Begleitet von heftigen Schauern, zog er über das Land. Nach solchen Regenfällen schwollen sogar heimische Rinnsale zu reißenden Flüssen an. Wütend verschluckten sie Wiesen und Gärten. Hilflos sahen Menschen zu, wie ihre Grundstücke im Wasser versanken.

Entrüstet schrie der Monat den Unhold an: „Hör endlich auf und lass mein Land in Ruhe!“
„Wer will mich an meinem zerstörerischen Werk hindern?“, grinste der Wetterdämon unverschämt. „Du etwa, der dumme August?“, er lachte so laut, dass die Luft vibrierte. Damit wollte er seinen Widersacher einschüchtern, doch es gelang ihm nicht.
„Mach deine Spielchen wo anders. So lange ich für das Wetter verantwortlich bin lasse ich es zu, dass du mir dazwischen funkst! Mir stehen selbst Blitz und Donner zur Verfügung. Beides werde ich einsetzen, wenn ich es für angemessen halte. Verschwinde, dich braucht hier niemand.“
Solche Worte waren dem Wetterdämon noch nie entgegen geschleudert worden. Er wusste auch nicht wie er damit umgehen sollte. Vielleicht war es doch besser sich in Richtung Süden zurück zu ziehen. Dort wurde er wenigstens gefürchtet, oder zumindest respektiert.
„Beruhig dich wieder, wir werden uns doch irgendwie einigen können.“, versuchte er sein Gesicht zu wahren.
„Sag mir einen Grund, warum ich das tun sollte. Wir brauchen keine Katastrophen. Auch ohne die gibt es für uns genug zu tun.“
„Wir? Von wem redest du?“
„Von meinen Brüdern und mich.“
„Kenne ich die?“
„Glaub schon.“
Und dann fing der August an aufzuzählen.
Wie gerufen gesellten sich Juli und September zu ihnen, als sie ihre Namen hörten. Ohne zu fragen blies der Juli dem Regenteufel warme Temperaturen ins Gesicht, die von starken Winden des Septembers verstärkt wurden. Der böse Geist hatte das Gefühl auszutrocknen. Wenn er weiterhin existieren wollte, musste er jetzt aufgeben.
„Das ist nicht fair, ihr seid zu dritt und ich bin ganz alleine!“, jammerte er herum.
„Hat hier jemand etwas von fair gefaselt? Weiß der Kerl eigentlich was das ist?“, rief Juli dem weichenden Dämon hinterher.

Die Brüder standen noch eine Weile beisammen um sich über den errungenen Sieg zu freuen.
„Dieser Typ weiß wirklich nicht, was faire bedeutet. Aber da gibt es noch etwas das er nicht kennt. Eigentlich ist er zu bedauern.“, meinte der August.
„Was? Ich habe mich wohl verhört! Der Wetterdämon vernichtet Ernten, zerstört Häuser und wenn er richtig am wüten ist ertrinken Lebewesen. Aber du bringst es fertig ihn noch zu bedauern. Dir hat er wohl den Verstand aufgeweicht!“, empörte sich der September.
„Denk doch Mal nach.“, verteidigte sich der August.
„Wir sind eine Familie. Auf euch kann ich mich immer verlassen, wenn ich Hilfe brauche. Aber er hat niemand, der ihm beisteht.“
Dankbar umarmte er seine Brüder. „Ich bin so froh, dass es euch gibt.“
Verlegen meinten die angesprochenen:
„Jetzt werde nicht sentimental. Das kannst du alles in der Jahresversammlung zur Sprache bringen. Es wird unsere Wintermonate bestimmt auch interessieren. Können wir dich jetzt alleine lassen?“
„Klar doch. Die Gefahr ist gebannt und wenn ich angenehm warme Temperaturen mit leichten Winden einsetze, dann ist noch genügend Zeit um den angerichteten Schaden zu beheben. Die Sterblichen werden mir helfen. Schaut Mal hinunter auf die Erde. Sie sind schon kräftig am Aufräumen.“, freute er sich.

Die Menschen hatten viel zu tun und waren sehr fleißig. Wohlwollend sah der August ihrem Wiederaufbau zu. Um sie zu unterstützen schenkte er ihnen sein bestes Wetter.

Bauernregeln, die nach langjähriger Erfahrung entstanden, schrien ihn vorwurfsvoll an:
„Augustregen wirkt wie Gift, wenn er die reifenden Trauben trifft.“
Soweit wird er es nicht kommen lassen. Alle Reben streichelte er sanft trocken und redete ihnen gut zu, damit sie sich bei ihm wieder wohl fühlen konnten.
Kurz danach verhöhnte ihn die Regel:
„Trübe Aussicht an den Hundstagen, trübe Aussicht das restliche Jahr.“
Wenn er bei Mutter Natur ein gutes Wort einlegte, dann konnte er auch das verhindern. Pflanzen Menschen und Tiere hatten schon genug gelitten, er wollte ihnen weiteren Kummer ersparen.
Sie wusste dass es nicht seine Schuld war von einem Dämon heimgesucht worden zu sein. Er gab sich doch so viel Mühe die geschlagenen Wunden heilen zu lassen. Vertrauensvoll rechnete er mit ihrer Kraft, die zu einem guten Ende führen würde.

Einige Zeit später konnte man kaum noch erkennen, dass es eine Katastrophe gab.
Mutter Natur hatte ihn nicht enttäuscht. Es glich einem Wunder, wie schnell sich die Pflanzen erholten. Trockene Wiesen ließen neue Ernten zu, so dass die Bauern ihre Scheunen füllen konnten. Unter der Sonne gelangten Früchte zur letzen Reife und in Gärten gedieh allerlei Gemüse. Prächtig blühende Blumen trugen dieses Jahr besonders viel Nektar, den fleißige Bienchen einsammelten.

„Stellt im August sich Regen ein, so regnet's Honig und guten Wein.“, hielt der Monat den
garstigen Bauernregeln entgegen.
Noch einmal wird er auf ihr Geschwätz nicht hereinfallen, denn sie widersprachen sich ja selber.

Froh, seinem Bruder ein wohlgeordnetes und gut gefülltes Haus übergeben zu können, lag er entspannt auf einer Wiese. Aufmerksam beobachtete er weiße Wolken am Himmel vorbeiziehen. Sie waren Boten des Friedens.

Julimärchen - Das Geschenk


Das Geschenk

Als der Juni ins Schloss der Jahresmutter gerufen wurde, musste er sich vor den anderen Monaten rechtfertigen. Mit seiner Absicht Wärme zu verbreiten hatte er es übertrieben. Nicht nur Menschen fiel es schwer die Temperaturen auszuhalten, auch alle Pflanzen litten unter der andauernden Trockenheit. Ihre Fruchtstände konnten sich nicht ausreichend entwickeln, weil ihnen das notwendige Wasser fehlte.
„Du Blödian glaubst wohl aus der Reihe tanzen zu können. Es geht hier nicht nur um dich allein. Wir alle müssen darauf achten, dass sich die Natur voll entfalten kann.“, schimpfte sein Bruder September.
„Wofür steht mir Hitze zur Verfügung, wenn ich sie nicht einsetzen darf?“, verteidigte sich der Beschuldigte.
„Kannst du doch, aber in Maßen. Wir müssen sorgfältig mit unseren Fähigkeiten umgehen. Das hast du nicht getan und jetzt haben wir den Salat. Ähm, es wäre schön wenn wir Salat hätten, aber der konnte bei diesem Klima nicht gedeihen. Ich meine natürlich, dass wir uns jetzt überlegen müssen, wie wir den angerichteten Schaden wieder gut machen können.“
Nun war Juli an der Reihe das Wetter zu bestimmen, deshalb richtete sich alle Aufmerksamkeit auf ihn.
„Damit ich sehen kann was am dringendsten benötigt wird, möchte ich erst eine Bestandsaufnahme machen.“, schlug er vor.
Beifall erfüllte den Saal.
Der Juni stand wie ein begossener Pudel neben ihm und war sich keiner Schuld bewusst. Alle schwärmten doch vom sonnigen Süden, wollten sogar in Afrika Urlaub machen und jetzt, wo er herrlich heißes Wetter den Europäern geschenkt hatte, war es auch wieder nicht Recht. Zornig brüllte er die anderen Monate an.
„Macht doch euren Sch… alleine!“
Der April wollte vermitteln, wurde aber vom Dezember zurück gehalten.
„Lass ihn, der beruhigt sich auch wieder. Jedem fällt es schwer sich Fehler einzugestehen. Jetzt bin ich aber neugierig zu welchem Resultat der Juli gekommen ist.“

Dass kühlender Regen fehlte war offensichtlich. Ausgetrocknete Erdböden zeigten Risse und die Waldbrandgefahr stieg erheblich.
Entschlossen krempelte der Juli seine Ärmel hoch und sammelte überm Meer entstandene Feuchtigkeit ein, die er übers Land scheuchte.
„Autsch, pieks doch nicht so, du tust uns weh“, beklagten sich helle Stimmen.
Verwundert hielt der Juli inne.
Im Wolkengebilde, das er vor sich her schob, schwirrten elfengleiche Wesen herum, die nur aus Tropfen zu bestehen schienen. Ängstlich hielten sie sich aneinander fest. Einfallendes Licht brach sich in tausend Facetten.
Beeindruckt von deren Schönheit fragte der Juli:
„Wer seid Ihr? Ich habe Euch noch nie gesehen.“
„Das ist wieder einmal typisch für Monate.“, meldete sich eine der Schwestern zu Wort.
„Jahr um Jahr begleiten wir Euch, erleben die gleichen Temperaturen, halten denselben Stürmen stand und dann bemerkt Ihr uns noch nicht einmal.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage. Wer, oder was seid Ihr?“
„Wir sind die Seelen des Wassers. Ohne uns gäbe es diese Kostbarkeit nicht.“
„Was tut ihr dann am Himmel? Warum lasst ihr euch nicht auf die Erde fallen, wo ihr sehnsüchtig erwartet werdet?“
„Hast du eine Ahnung, was uns bevorsteht. Früher, da machte es richtig Freude sich dort aufzuhalten. Doch heute? Es ist ja so dreckig da unten, dass wir beschlossen haben zu streiken.“
„Moment Mal, das geht doch nicht! Ihr dürft nicht streiken, oder aus grünen Landstrichen wird eine Wüste werden.“
„Stein- oder Wasserwüst, was hättest du lieber?“, fragte eine der Rednerinnen keck.
„Keins von beiden. Ich mag prächtige Blüten, herb duftende Kräuter und herumtollende Kinder.“
Der Juli beschrieb seine Wünsche so bildhaft, dass sich einige Tropfenseelen vor Rührung nicht mehr in der Luft halten konnten und langsam niedersanken. Ihnen folgten andere, bis erfrischender Nieselregen einsetzte.
Erleichtert sah der Juli, wie alle Lebewesen der Erde aufatmeten.
Doch dann musste er mit ansehen, wie alle Wasserseelen gleichzeitig zu Boden fallen wollten.
„Weg da, mach Platz, ich bin zuerst dran. Dann musst du aber schneller sein.“, stritten sie untereinander.
Schnell entstand aus dem Segen ein noch größeres Unheil, als zuvor.
Flüsse erhoben sich aus ihren Betten und überschwemmten das ganze Land.
„Halt, halt, was macht ihr da. Seid ihr denn nicht eurer Verantwortung bewusst?“, schrie der Juli verzweifelt.
„Verantwortung, für wen?“, fragten die Seelen.
„Für uns alle.“
„Was haben wir davon?“
„Ein Geschenk das ich Euch überreichen werde, wenn ihr aufhört Land in Seen umzuwandeln.“
„Was soll das für ein Geschenk sein?“
„Das werdet ihr schon früh genug sehen.“
„Gib uns erst das Geschenk, dann überlegen wir uns, ob wir es überhaupt haben wollen.“
„Nein. Entweder ihr macht was ich euch sage, oder ihr bekommt gar nichts.“
Die Seelen des Wassers waren von Natur aus neugierig und beratschlagten was zu tun sei. Da alle anwesend sein mussten, damit jede Meinung berücksichtigt werden konnte, vergingen mehrere Wochen in denen kein Tropfen fiel.
Der Juli nutzte die Zeit, um es reichhaltig blühen zu lassen. Bienen schwirrten emsig umher und sammelten Nektar ein, wie sie es in jedem Honigmonat taten.

Schließlich trat eine der Seelen hervor und verkündete:
„Wir sind einverstanden und wollen uns besser benehmen.“
„Ihr hört auf das, was ich euch sage.“
„Treib es nicht zu weit. Wir sind und bleiben eigenständige Wesen.“
Selbstverständlich. Aber ich muss darauf bestehen, dass wir uns in Zukunft absprechen. Da von mir verlangt wird für das Wetter Rechenschaft abzugeben, bin ich auf Eure Mithilfe angewiesen.“
„Vergiss nicht das Geschenk! Was für ein Geschenk hast Du für uns?“, riefen die Geschwister aufgeregt.“
„Geruch. Bis jetzt habt ihr nach Nichts gerochen, das soll sich nun ändern. Wenn immer ein Tropfen auf die Erde fällt, egal worauf, werden ihn Lebewesen riechen können.“
„Du kannst gut reden. Wir haben keine Nasen um zu überprüfen ob es wahr ist, was du sagst.“
„Werft einen Blick auf die Erde, der wird alle Zweifel beseitigen.“

Sie sahen eine Familie, die dabei war Heu zu einzulagern. Schnuppernd drehte der Bauer sein Gesicht dem Wind entgegen.
„Wir müssen uns beeilen, es wird bald regnen.“, sagte er zu seinem Sohn.
Wie kommst du darauf? Der Himmel ist doch strahlend blau.“
„Mag sein, aber ich kann den Regen riechen. Steh nicht so dumm herum. Noch heute müssen alle Ballen im Schuppen sein“

Triumphierend sah der Juli die Wasserseelen an.
„Gerade konntet ihr hören, dass ich nicht zuviel versprochen habe.“
Die Wasserseelen jubelten. Ihre neue Eigenschaft gefiel ihnen und um sie nicht wieder zu verlieren, streikten sie nie wieder.

Junimärchen - Johannisfeuer


Johannisfeuer

Vor vielen Jahren ließ sich am Rand des Dorfes eine junge Frau nieder. Sie hieß Johanna und kannte sich mit den Heilkräften von Kräutern bestens aus. Misstrauen schlug ihr von allen Einheimischen entgegen.
Woher kam die junge Frau? Warum hatte sie sich ausgerechnet bei ihnen niedergelassen? Wieso war sie nicht verheiratet und hatte keine Kinder?
Diese und ähnliche Fragen interessierten die Einwohner des Dorfes brennend.
Da sie aber stets freundlich war und jedem, der ihr begegnete ein Lächeln schenkte, wurde ihre Anwesenheit hingenommen.
Johanna war eine schöne Jungfer. Lange, blonde Haare umschmeichelten ihr schmales Gesicht. Hellblaue Augen und eine wohlgeformte Figur erweckte die Aufmerksamkeit der Burschen. Auch verheiratete Männer buhlten um ihre Gunst, doch keiner konnte sie erlangen.

Die Frauen des Dorfes sahen das mit heimlicher Genugtuung und luden die Fremde in ihre Häuser ein.
Als Johanna erzählte, Teemischungen und Salben herzustellen, erwarb sie sich deren Wohlwollen. Fast jede Mutter kannte noch Hausmittelchen aus alten Zeiten. Manche Weisheiten wurden ausgetauscht und Späße gemacht.
Von da an wurde Johanna bei den Dorffrauen freundlich aufgenommen. Dass ihr Holzhäuschen etwas abseits stand wunderte niemanden mehr. So wohnte sie näher bei den geliebten Kräutern, die sie zu ungewöhnlichen Zeiten pflückte.
Ihre Salben und Tinkturen wurden lieber benutzt, als vergleichbare Medikamente in der Apotheke. Sie waren gut verträglich und oft wirksamer.
Auch die Kinder mochten Johanna. Bei ihr lernten sie verschiedene Vogelarten anhand der unterschiedlichen Stimmen zu erkennen. Jeder Gang in die Natur wurde für die Kleinen zu einem spannenden Erlebnis.

Besonders zu dem Mädchen Klara fühlte sich Johanna hingezogen. denn es war sehr wissbegierig. Blaue Flecken an Armen und Hals verrieten, dass es zu Hause oft geschlagen wurde.

„Wer hat dir das angetan?“, fragte Johanna eines Tages.“
„Mein Vater“; antwortete Klara traurig.
„Er sagt, ich sei wie meine Großmutter. Die hätte auch den Teufel im Leib gehabt. Aber bei ihr wird er ihn herausprügeln. Dies sieht er als Liebesdienst an, für den ich ihm später noch dankbar sein werde“.
Johanna war entsetzt.
„Kanntest du deine Großmutter?“
„Nein. Kurz bevor ich geboren wurde starb sie. Aber oft träume ich von ihr. Wenn ich nachts weine, dann tröstet sie mich und verspricht mir, dass bald jemand kommt, der mein Leben ändern kann.

Johanna ahnte, dass Klaras Großmutter eine von ihnen gewesen war. Ihrem Enkelkind hatte sie übernatürlichen Fähigkeiten vererbt, die dem Vater als Hexerei vorkamen.
„Wirst du mir helfen?“, fragte das Mädchen.
„Dir kann niemand mehr ein Leid antun, denn ich umhülle dich mit einem unsichtbaren Schutz.“, antworte Johanna. Wer immer dich schlagen oder verletzen möchte wird Vergeltung erhalten. Doch ich sage dir gleich, lange kannst du nicht mehr bei deiner Familie bleiben. Dein Vater wird es nicht dulden, dass du für ihn unantastbar geworden bist.

Nachdenklich machte sich Klara auf den Heimweg. Was sie an diesem Tag erfahren hatte war so unglaublich, dass sie meinte, mit offenen Augen zu träumen. Diese schöne junge Frau, der einzige Mensch bei dem sie sich verstanden fühlte, sollte eine Hexe sein?
Aber Hexen waren doch alt, hässlich, hatten einen Buckel und eine dicke Warze auf der gebogenen Nase.
Der Prügelschutz war bestimmt auch eher ein Wunschgedanke, als Realität.

Als sie zu Hause ankam, fragte der Vater mit bedrohlicher Stimme.“
Wo hast du dich so lange herumgetrieben?“
„Ich habe mich nicht herumgetrieben, sondern war bei Johanna.“, antwortete Klara ehrlich. „Wir haben einen wunderschönen Nachmittag verbracht.“
„So, so, bei der Kräutertante warst du. Sie macht alle Weiber im Ort närrisch. Ich verbiete dir, sie noch einmal zu besuchen.“
Das erste Mal in ihrem Leben wagte Klara zu widersprechen.
„Was willst du dagegen tun, wenn ich trotzdem hingehe?“
Zornig hob der Vater die Hand und wollte seiner Tochter einen Hieb versetzen, doch dieses Mal war er es, der mit voller Wucht zu Boden fiel. Außerdem tat ihm seine Hand höllisch weh.
Verblüfft sah er Klara an. Sie stand noch am gleichen Platz, ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.
Benommen rappelte er sich auf. Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal zu seiner Tochter um.
„Wir sprechen uns später. Glaub bloß nicht, dass ich mir deine Frechheit bieten lasse.“

Im Gasthaus „Zum Hirsch“, versammelten sich alle ehrenwerten Männer des Dorfes. Johanna muss schnellstens verschwinden, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Darin waren sich alle einig. So ging es jedenfalls nicht mehr weiter.
Der Apotheker beklagte, dass kaum noch seine Medikamente gekauft wurden und auch der Arzt blickte auf bedenklich viele leere Stühle in seinem Wartezimmer.
Der Lehrer in der Grundschule wusste nicht mehr, was er den Kindern im Naturkundeunterricht beibringen sollte. Sie hatten inzwischen mehr Ahnung, als ihr Lehrmeister.
Die Frauen im ganzen Ort stellten plötzlich Ansprüche und verlangten, dass das Haus ihr Bereich ist, wo sie die alleinige Verantwortung tragen.
Da stand Klaras Vater auf und berichtete, was ihm widerfahren war.
„Das ist der Beweis, auf den wir alle gewartet haben.“, verkündigte der Bürgermeister hocherfreut.
„In unserem Dorf treibt eine Hexe ihr Unwesen. Wir müssen sie vernichten, bevor es zu spät ist.“
„Aber wie sollen wir das tun?“, fragte der Apotheker.
„Ich habe eine ausgezeichnete Idee, aber dafür brauche ich willensstarke Männer.“, äußerte sich der Lehrer.
Bevor er mit der Sprache herausrückte, gab er eine Runde Bier aus.
„Auf die alten Zeiten Mögen sie bald wiederkommen.“, lautete sein Trinkspruch. Dann wurde er ernst.
„Heute haben wir den dreiundzwanzigste Juni, wenn das kein Zeichen vom Himmel ist.“
In der Runde, sah er nur verständnislose Gesichter.
„Habt ihr schon mal etwas vom Johannisfeuer gehört?“
Um seine Bildung zu beweise, meldete sich der Doktor zu Wort.
„Das ist ein Brauchtum bei dem ein Scheiterhaufen errichtet und angezündet wird. Die Verbrennung des Hansl, einer Strohpuppe, soll vor Dämonen, Hagel und Viehschäden schützen.“
„Genau. Johanna ist ein Dämon, vor dem uns das Johannisfeuer schützen wird.“
„Aber wir haben weder Scheiterhaufen, noch eine Strohpuppe, die darauf verbrannt werden kann.“
„Solche Dinge brauchen wir nicht. Unser Dämon lebt bereits in einem Holzhaus. Mit Balken verschließen wir Fenster und Tür, damit die Kräuterhexe nicht hinaus kann. Ein Ballen Stroh reicht aus. Wenn wir ihn gut verteilen, brennt alles wie Zunder.
Nun ziert euch nicht und macht mit. Noch diese Nacht werden wir das teuflische Treiben los.“, drängte der Lehrer.
„Das ist ein Verbrechen, ihr geht eindeutig zu weit! Ohne mich. Was wollt ihr demnächst mit meiner Tochter machen?“ Klaras Vater ergriff panische Angst.
„Mach dir mal keine Sorgen. Klara ist ein liebes Kind, ihr werden wir nichts tun. Vielleicht bist du auch nur ausgerutscht“, beruhigte der Bürgermeister den aufgeregten Mann.
„Noch ein Bier für meine Freunde, dieses Mal bezahle ich“, rief er dem Wirt zu.

Das Feuer erhellte den Nachthimmel, als Johannas Häuschen brannte. Jene, die sowieso nicht schlafen konnten gingen hinaus, um nachzusehen, was passiert war. Es verschlug ihnen den Atem, als sie die Männer um lodernde Flammen tanzen sahen. Zum Löschen war es viel zu spät, doch alle Frauen wurden alarmiert, damit sie mit eigenen Augen sahen, welches ungeheuerliche Verhalten in ihrem Dorf möglich war.

Klara bekam von all dem nichts mit. Beim Frühstück fragte das Mädchen nach ihrem Vater, der sonst immer an der Stirnseite des Tisches saß.
„Der schläft noch seinen Rausch aus. Wenn er wach ist, habe ich ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden.“
Das Mädchen bekam es mit der Angst zu tun.
„Was ist passiert?“
„Es sieht so aus, als hätten er und seine wahnsinnigen Freunde Johannas Haus angesteckt.“
„Ist sie schlimm verletzt?“
„Weiß nicht, niemand hat sie bisher gesehen.“
Klara stieß einen schrillen Schrei aus. Nichts hielt sie mehr zurück. In Windeseile erreichte sie den Platz, wo gestern noch das Holzhäuschen stand. Ein stechend beißender Geruch nahm ihr fast den Atem.
Vor den verkohlten Überresten brach das Mädchen schluchzend zusammen.
„Nicht traurig sein“, sagte eine vertraute Stimme.
Wie vom Blitz getroffen fuhr Klara herum und blickte in Johannas Augen. Erleichtert fiel sie ihr in die Arme.
„Wie konntest du den Flammen entkommen?“, stammelte das Kind
„Die Männer waren nicht gerade leise, als sie vor meinem Haus standen. Ich wusste sofort was sie im Schilde führten. Also verwandelte ich mich in einen Junikäfer und flog unbemerkt davon.“
„Du kannst dich verwandeln?“, fragte das Mädchen erstaunt.
„Hexen können noch viel mehr, aber wir wenden unsere Fähigkeiten nur im Notfall an.“
Dann wurde Johanna ernst.
„Ich sagte dir bereits, dass du nicht mehr lange zu Hause leben kannst. Schau nur, was sie mir antun wollten.“
„Wo soll ich denn sonst hin?“ Tränen glänzten in Klaras Augen.
„Bleib einfach bei mir. Ich verspreche dir, dass du alles lernen wirst, was du wissen musst und auch das, was du möchtest.
„Oh ja“, jubelte das Mädchen. Bringst du mir auch bei, wie ich mich verwandeln kann?“
„Das kommt ganz darauf an, welche Fähigkeiten du besitzt.“

Arm in Arm gingen sie dem Horizont entgegen und wurden von niemand mehr gesehen.

Montag, 8. August 2011

Maimärchen - Die Maikönigin


Die Maikönigin.

Das Schloss der Maikönigin Marijella sah wundervoll aus. An seinen Mauern kletterte Blauregen hoch, dessen prächtige Blüten das Herz eines jeden erfreute.
Wenn die Sonne sanfte Wärme verbreitete, schlenderte die Maikönigin gern im Garten umher und genoss den Anblick des zart rosa blühenden Perlmuttstrauchs, der Sträucher, an denen dicht wachsende Schneebälle hingen, des duftenden Flieders und bewunderte die aufbrechenden Knospen der Kirschbäume. Doch nicht nur Bäume und Büsche fanden ihre Beachtung, auch die kleinen, unscheinbaren Pflanzen mochte sie gern.
Ganz besonders liebte sie die im angrenzenden Buchenwald versteckten Maiglöckchen.
Vögel bauten an ihren Nestern und zwitscherten munter. Auch das Summen der Bienen verriet emsiges Leben.
Marijella war glücklich über die Geschenke der Natur.
Auch ihr Volk wusste den Mai zu schätzen. Es gab viel zu tun, aber während der Arbeit hatten die Menschen immer ein Lied auf den Lippen.

Diese heitere Stimmung war Zakistro, dem Herrscher des Nachbarlandes, ein Dorn im Auge.
In seinem Reich fürchtete sich die Bevölkerung vor dem großen Zauberer. Er regierte mit unnachgiebiger Strenge, weil es ihm Freude machte, andere leiden zu sehen.
Selten drang Kinderlachen an sein Ohr. Sogar Vögel, die sein Land überflogen, verstummten.
Im Laufe der Zeit war sein Herz hart wie Stein geworden. Es ließ keine Gefühle mehr zu.
Wenn er jedoch ausritt und einen Blick in das Reich der Maikönigin warf, spürte er, dass ihm etwas fehlte. Dann wurde er zornig und ließ seinen Unmut an jedem aus, der ihm begegnete,
Aber nachts, wenn er sich zur Ruhe begab, quälte er sich mit dem Wissen herum, dass er etwas nicht hatte, das andere besaßen.

Eifrig suchte er in seinen Zauberbüchern nach einem Spruch, der ihn von diesem Mangel befreien würde, doch er fand nichts Passendes. Wütend schleuderte er die alten Meisterwerke in eine Ecke.
Dabei landete eines der Bücher weit geöffnet im Schmutz, und als Zakistro es aufheben wollte, stand auf einer Seite geschrieben:
Wen die Maikönigin küsst, dessen hartes Herz wird erweichen, damit Friede und Zufriedenheit wieder in ihm Einzug halten kann.
Es gab auch eine Bedingung.
Dieser Kuss müsse aus freiem Willen gewährt werden, keine Drohung dürfe gegen sie ausgesprochen werden, sonst sei der Zauber unwirksam.
Jahrhunderte lang hatte Zakistro gebraucht, um seine Herzensgüte loszuwerden. Er wollte sie auch nie wieder erlangen. Aber, wenn er so tat, als würde er tief bereuen, hätte die Maikönigin gar keine andere Wahl, als ihm zu helfen. Dann kam es darauf an, wessen Zauberkräfte stärker waren. Es würde einen Kampf zwischen Gut und Böse geben. Der Zauberer jubelte. Er war sich sicher, mit Tricks und Lügen dieses Duell für sich zu entscheiden.
Da er weder missgestaltet noch hässlich war, würde die Maikönigin ihm diesen magischen Kuss geben und damit ihr Schicksal besiegeln.

Am folgenden Tag stand Zakistro ungewöhnlich früh auf. Er zog sich die schönsten Kleider an, kämmte sein Haar, bis es glänzte, und sprühte sich mit wohlriechenden Düften ein. Als er sein Spiegelbild betrachtete, war er sehr zufrieden. Heute würde er der Schönste sein.
Wenig später hielt er eine Schatulle in der Hand. Ihr Inhalt konnte sogar eine Königin schwach werden lassen, dachte er.

Die Untertanen der Maikönigin waren sehr erstaunt, als sie den großen Zauberer erblickten. Sie hatten schon so viel von ihm gehört, dass sie ihn gleich erkannten. Trotz seiner Jugend sagte man ihm nach, dass er abgrundtief schlecht sein solle. Sein Stolz war bekannt, auch dass er schwarze Farben liebte. In seiner Nähe wurde es kalt. Dies war ein untrügliches Zeichen. Selbst bei strahlender Sonne begannen die Menschen zu frieren, wo immer er auftauchte.
Als Marijella ihn sah, trat sie ihm entschlossen entgegen.
„Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?“, fragte sie ohne Umschweife.
Zakistro verneigte sich tief vor der Königin.
„Verzeiht, Eure Majestät. Erweist mir die Gunst, dies mit Euch unter vier Augen zu sprechen.“
Marijella sah sich um. Tatsächlich umringten sie neugierige Zuhörer.
„Wie Ihr wünscht. Zwar habe ich keine Geheimnisse vor den Bewohnern meines Landes, jedoch, da Ihr hier fremd seid, erlaube ich Euch, mich in die Bibliothek zu begleiten. Dort sind wir ungestört.
Sie bot dem Zauberer ihren Arm. Gemeinsam betraten sie das Schloss.
Kaum waren sie allein, überreichte der Zauberer ihr sein Geschenk. Im Kästchen lag eine Kette aus funkelnden Diamanten. Königin Marijella warf einen kurzen Blick darauf und legte es achtlos zu Seite.
„Sagt mir, Meister der Magie, was ist Euer Begehren?“
Zakistro fiel es schwer, seinen Wunsch zu äußern. Er redete allerlei um den heißen Brei herum, lobte die Schönheit der Königin und wie weise sie regieren würde. Vergeblich suchte er nach den richtigen Worten.
„Erspart Euch die Schmeicheleien. Sagt gerade heraus, was Ihr wollt.“, unterbrach ihn Marijella.
„Fast nichts, nur einen Kuss von Eurer Gnaden. Wenn Ihr mir den gewährt, kann ich wieder Mitleid empfinden.“
Die Maikönigin wich einen Schritt zurück. Sie wusste zwar von ihrer Fähigkeit, musste sie jedoch nie zuvor anwenden.
„Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch von Grund auf ändern wollt, oder gibt es nicht genügend Frauen in Eurem Reich?“
„Frauen haben wir genug, aber nur Ihr könnt mir ein feinfühliges Herz geben.“
„Mir wurde berichtet, dass Ihr Eure Untertanen schlecht behandelt. Schaut Euch bei mir um. Hier werdet Ihr nur zufriedene Leute finden. Wir haben nichts gemeinsam. Ihr bürdet mir eine große Verantwortung auf. Nach meinem Kuss wird in Eurem Reich nichts mehr so sein, wie es war“
Da fiel Zakistro auf die Knie.
„Ich flehe Euch an. Mein erkaltetes Herz bringt Unglück über das ganze Land. Es liegt an Euch, dies zu ändern. Wie könnt Ihr an meiner Entschlossenheit zweifeln?“
„Nun denn. Wenn es unbedingt sein muss, bringen wir es schnell hinter uns.“
Der Zauberer spitzte triumphierend die Lippen. Doch als Königin Mariella ihm in die eiskalten Augen sah, konnte sie darin Gedanken lesen und erkannte Zakistros schändliche Absicht.
Bei diesem Kuss würde sie all ihre Zauberkräfte einsetzen müssen. In diesen schutzlosen Momenten konnte er Macht über sie erlangen und ihr ganzes Volk unterwerfen.
Marijella stieß einen Schrei aus und stieß sie ihn weit von sich.
„Elender Betrüger! Niemals werdet Ihr Euer Ziel erreichen. Wagt es nicht noch einmal mich zu belästigen und verlasst auf der Stelle mein Land!“
Zornig deutete sie auf das Kästchen mit dem Schmuck.
„Vergesst Euer Geschenk nicht, ich habe keine Verwendung dafür.“
„Das werdet Ihr noch bitter bereuen“, drohte Zakistro und machte sich auf den Heimweg.

Diese Demütigung wird ihr noch leid tun, zürnte Zakistro und rief seine getreuen Untertanen herbei, die „gestrengen Eismänner“.
Nacheinander wollten sie die Maikönigin aufsuchen und ihr Blütenmeer zerstören.
Am zwölften Mai suchte Pankratius das Land der Königin heim:
„Wenn's an Pankratius friert, so wird im Garten viel ruiniert“, dichtete er voller Schadenfreude und überzog die Erde mit einer dicken Raureifschicht.
Dies war die erste Missetat, weitere sollten folgen. Danach würde sich die Königin zweimal überlegen, ob es nicht doch besser sei, den Wunsch ihres Regenten zu erfüllen.

Am dreizehnten Mai versuchte Sevatius sein Glück. Er brachte starken Nachtfrost. Als er sein Unwesen trieb, warnten die Bäume ihre Königin:
„Servatius' Hund der Ostwind ist – hat manches Blümlein totgeküsst.“

Marijella weinte bittere Tränen. Am Tag darauf ging sie in den Garten und redete mit den Pflanzen. Sie erklärte ihnen, woher die plötzliche Kälte kam und was Zakistro von ihr verlangt hatte.
„Bleibt standhaft und macht Euch keine Sorgen“, trösteten sie die Blumen, obwohl der Frost ihnen arg zusetzte. „Unsere Wurzeln sind gut geschützt, wir haben schon Schlimmeres überstanden. Unsere Blüten kommen wieder, und dann sehen wir noch prächtiger aus.“

Nach Servatius musste das Land der Königin noch Bonifatius und die kalte Sofie ertragen.
Als auch die keinen unwiederbringlichen Schaden anrichteten, gab Zakistro endgültig auf.
Bald verkündete das fröhliche Klingeln der Maiglöckchen, dass die Kälte überstanden war.
Der Zauberer nahm seine Niederlage zähneknirschend hin. Im nächsten Jahr würde er es aufs Neue versuchen.


Freitag, 5. August 2011

Aprilmärchen - Ein schwieriger Geselle


Ein schwieriger Geselle.

Zwölf Kinder waren zum großen Familientreffen geladen worden, und alle erschienen mit unterschiedlichen Erwartungen.
Keines konnte sagen warum es diese seltsame Unruhe verspürte. Jedes ahnte, dass sie nie wieder alle zusammen sein würden.

Die Jahresmutter war eine Dame im zeitlosen Alter. Liebevoll hatte sie sich um jeden Einzelnen ihrer Söhne gekümmert, doch nun war es an der Zeit, sie in die Welt zu entlassen.
Sie hatte einen großen Gabentisch vorbereitet, auf dem alle möglichen Wetterlagen friedlich nebeneinander schlummerten. Sie mussten erst aktiviert werden, bevor sich ihre Wirkung entfalten konnte.
Die Begrüßung verlief herzlich, alle freuten sich über die unerwartete Einladung.
Es wurde viel geredet. Doch als die Brüder feststellten, wie unterschiedlich sie über ihre Zukunft dachten, gerieten sie darüber in Streit.
Da sprach die Jahresmutter mit lauter Stimme:
„Ihr seid jetzt alle erwachsen, deshalb trennen sich unsere Wege. Ich war gern eure Mutter und hoffe jedem das beigebracht zuhaben, was er für sein Leben braucht.“
Sie zeigte auf den Tisch.
„Hier finde ihr alles, um eurer Aufgaben zu erfüllen. Jeder kann sich das nehmen, was ihm gefällt. Greift unbekümmert zu, von allem ist reichlich vorhanden.
Dies werden meine letzten Geschenke an euch sein. Geht sorgsam mit ihnen um und macht mir keine Schande.“

Neugierig näherten sich Januar und Februar dem Gabentisch. Die beiden konnten sich gut leiden, oft genug steckten sie ihre Köpfe zusammen. So viele Wetterlagen an einem Ort hatten sie noch nie gesehen. Unschlüssig schweiften ihre Blicke umher. Bald fanden sie Schnee, Eis und frostige Nächte. Doch was sollten sie mit brütender Hitze anfangen? Ein bisschen Sonnenschein steckten sie sich ein, außerdem noch Wind und Regen. Zufrieden zogen sich die Wintermonate zurück. Damit würden sie gut über die Runden kommen.
Die anderen machten es ihnen nach. Eine Entscheidung zu treffen und sich etwas Passendes auszusuchen, war gar nicht so einfach. Da sie aber jede Art von Wetter mitnehmen konnten, wählten sie Situationen aus, die ihnen keiner zugetraut hätte. So fanden auch gravierende Ereignisse, wie Überschwemmungen und Wirbelstürme ihre wohlwollenden Abnehmer.

Bald hatte sich jeder Monat mit allem eingedeckt, was er begehrte. Nur der April stand noch unschlüssig herum. Er konnte sich einfach nicht entscheiden.
Zuerst raffte er alle auf dem Tisch liegenden Wetter zusammen. Doch weil er damit nur den Spott seiner Brüder herausforderte, wurde er wütend und warf alles wieder auf seinen ursprünglichen Platz zurück.
„Sei doch vernünftig“, wollte der August vermitteln.
„Du kannst nicht Sturm und Nebel gleichzeitig benutzen. Starker Wind reißt die Nebelbank auseinander“
„Ich will aber beides“, trumpfte der April auf.
„Wie sollen trockene Böden entstehen, wenn Du jede Menge Regen eingepackt hast?“
„Ich will sie trotzdem haben.“
„Einerseits nimmst du frostige Nächte, und dann wiederum sonnenwarme Tage mit aufblühenden Blumen. Hast du keine Angst, dass Kälte die zarten Knospen zerstört?“
„Und wenn schon. Dann fege ich eben mit Hagel alle abgestorbenen Pflanzenteile wieder hinweg.“
„Du machst Scherze - Aprilscherze.“
Hinter seinem Rücken hörte er einen Bruder lästern:
„Lass ihn doch. Die Sterblichen haben dafür ein Sprichwort. Sie sagen:
Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.“
In seiner Aufregung, verstand der April nur das letzte Wort. Prompt verlangte er:
„Himmelreich, das will ich auch.“
Übermütig sprang er auf den Tisch und wühlte alle Geschenke durcheinander. Eine Weile später rief er nach seiner Mutter.
„Ich kann das Himmelreich nicht finden, wo hast du es versteckt?“
Die Jahresmutter wusste nicht, wovon die Rede war. Hilfesuchend wandte sie sich an die anderen Anwesenden. Der Juni machte ein eindeutiges Zeichen, dass er den April für einen Spinner hielt, und klärte sie über das Missverständnis auf.
Kopfschüttelnd wies sie ihren Sohn zurecht.
„Junger Mann, bei dir scheinen meine Erziehungsmethoden fehlgeschlagen zu sein. Du benimmst dich immer noch wie ein ungezogenes Kind. Dich kann ich nicht allein lassen, deshalb werde ich März und Mai bitten, auf dich aufzupassen.
Was sehe ich da? Du hast ja noch gar keine Gaben eingesammelt. Komm, gemeinsam suchen wir uns eine schöne Zusammenstellung für dich aus.“
Mit dem unterschiedlichsten Wetter beladen, musste der April seinen Platz zwischen den vernünftigeren Frühlingsmonaten einnehmen. Diese waren zwar von der Entscheidung ihrer Mutter nicht begeistert, konnten ihr aber keinen Wunsch abschlagen.

Nachdem alles zur Zufriedenheit der Jahresmutter geregelt war, konnte sie sich endlich zurückziehen und ihren Söhnen die Verantwortung übergeben.
Vier Wochen lang sollten sie sich ungestört austoben, mussten aber beim nachfolgenden Monat Rechenschaft ablegen. So war ihrer Meinung nach die Zusammenarbeit mit der Natur gewährleistet.
Als der April an der Reihe war, sann er lange über seine Möglichkeiten nach. Wie konnte er es den Menschen heimzahlen, dass sie ein Himmelreich besaßen, er aber nicht. Immer noch gab sich der April unberechenbar. Vernünftig sein, war ihm viel zu langweilig. Er wollte Spaß haben.
Sah er zum Beispiel einen Sterblichen, wie der Beete seines Gartens zur Aussaat vorbereitete, dann zog er eine Wolke heran und ließ es kräftig regnen. Völlig durchnässt, mit zentimeterdicken Schlamm an den Schuhen klebend, musste der arme Mensch seine Arbeit aufgeben.
Danach konnte die Sonne ruhig wieder scheinen.
Anderen Leuten blies der April Hut oder Mütze vom Kopf. So bald sie sich danach bückten, flog ihre Kopfbedeckung weiter weg, bis sie in einer nahe gelegenen Pfütze landete.
Er amüsierte sich köstlich über seine gelungenen Streiche, die keinen großen Schaden anrichten.
Menschen waren seine bevorzugten Opfer. Noch immer hatte der April ihnen nicht verziehen, dass er kein Himmelreich haben konnte.
Sollten sie sich doch dorthin zurückziehen. Solange sie noch auf der Erde weilten, würde er sie ärgern, wo er konnte.