Mittwoch, 24. Oktober 2012



Rotkäppchen und der hungrige Wolf

Es war einmal, da eilte ein junges Mädchen durch den Wald zu einer Hütte, in der seine Oma lebte. In Händen hielt das Kind einen Korb aus dem es verlockend nach Gesottenem und Gebratenem duftete. Jeden Tag machte es sich auf den Weg, um die alte Frau mit Mahlzeiten zu versorgen. Bei ihm zu Hause wurde Großmutter nicht mehr geduldet da sie unter Gedächtnisschwund litt, was zu ständigen Zerwürfnissen mit ihrem Sohn führte. Das kleine Mädchen liebte seine Oma sehr und verbrachte fast jede freie Minute mit ihr. Gern half es ihr sich zu erinnern und lauschte geduldig den Erzählungen der Alten. Beide lachten herzhaft miteinander und musizierten, dass es eine Freude war ihnen zuzuhören.
Als der Winter kam, machte sich seine Mutter große Sorgen, denn  der Weg wurde immer beschwerlicher. Doch alles Bitten und Zureden bei ihrem Mann half nichts. So lange Oma sich nicht an bestimmte Dinge erinnern würde, musste sie im Walde leben. Verbannt von der Familie, weit fort von ihrem Sohn.
Aus diesem Grunde lief das Mädchen auch bei tiefem Schneegestöber zu seiner Oma, die Töpfe gefüllt mit leckerem Essen. Bei allen Wegen setzte es sich ein rotes Käppchen auf, das wärmte und weithin sichtbar war. Dies stand ihm so gut, dass es von jedermann nur noch Rotkäppchen genannt wurde.
Eines Tages, Rotkäppchen war gerade bei Großmutter angekommen, klopfte es stürmisch an der Tür des Häuschens. Verwundert öffnete das Kind, doch noch mehr staunte es als ein prachtvoller Wolf um Einlass bat. Er habe großen Hunger gestand er und würde zu gerne mit den beiden Frauen speisen, es solle auch ihr Schaden nicht sein.
Großmutter wollte den Wunsch des Tieres sogleich gewähren, doch ihre Enkelin erhob Einwände. Zuerst müsse der Wolf zeigen, dass er sich gesittet benehmen könne, dann würde er an ihrem Tisch willkommen sein. Dazu gehören unter anderem auch, sich die Pfoten zu waschen, auf dass jede Kralle blitzblank glänzte.
Der Wolf wurde ungehalten ob den strengen Bedingungen Rotkäppchens, die er kaum erfüllen konnte. Ließ sie ihn aber am Essen schnuppern, dann fügte er sich ergeben und gab sich die größte Mühe. Siehe da, das Unmögliche geschah, bald saßen sie zu dritt am Tisch und ließen es sich munden. Kaum waren alle satt geworden, erhob sich der Wolf, dankte artig und erinnerte an sein zuvor gegebenes Versprechen.
Weil beide Frauen den Tisch mit ihm geteilt hatten und der Mär vom bösen Wolf keinen Glauben schenkten, wolle er sich erkenntlich zeigen und Großmutter von ihrem Gedächtnisverlust befreien. Nur so könne sie wieder als wissende Magierin zu ihrer ursprünglichen Bestimmung finden und Märchen mit der realen Welt von Menschen vereinen. Nur eine weise Frau wie sie sei fähig, Träume in denen alles möglich war, bei erwachsenen Menschen wieder aufleben zu lassen. Ein Fluch habe sie einst getroffen von dem sie nur erlöst werden konnte, wenn ein wildes Tier bei ihr Aufnahme finden würde. Dies sei nun geschehen und deshalb wünsche er ihr gutes Gelingen in der Zukunft.  
Rotkäppchens Oma wusste, dass eine große Verantwortung auf ihr lag und war bereit diese Bürde auf sich zu nehmen.
„Und du mein lieber Wolf, was ist dein Begehr?“, wollte sie wissen.
„ Ach nichts weiter“, druckste er herum. „ Es ist nur so, dass ich mich unsterblich in eure Enkelin verliebt habe.“
„Nanu, obwohl sie von euch so unnachgiebig auf menschliches Benehmen bestand?“
„Sie war stur, mutig, selbstbewusst, verlässlich und liebevoll euch gegenüber. Ich bewundere sie, eine bessere Partnerin vermag ich nicht zu finden. Bitte erlaubt, dass ich um ihre Hand anhalte.
Großmutter hätte eine Vermählung zwischen dem Wolf und Rotkäppchen gern gesehen, doch dazu war das Mädchen noch viel zu jung. Außerdem hatten ihre Eltern in dieser Angelegenheit auch noch ein Wörtchen mitzureden. Deshalb beschränkte sich die Magierin  darauf, den ungewöhnlichen Freier in menschlichen Gebräuchen zu unterweisen und falls nötig auch zu verwandeln.

Rotkäppchen war zu einer lebenslustigen jungen Frau herangewachsen, die viele Blicke auf sich zog. Ein junger Mann erregte besonders ihre Aufmerksamkeit. Er sah blendend aus, war gebildet, strahlte vornehme Zurückhaltung aus und schien wohlhabend zu sein. Doch das war es nicht, was sie an ihn so faszinierte. Sah sie in seine Augen, dann kribbelte es an ihrem ganzen Körper bis in die Fußspitzen hinein. Kein Anderer übte solch eine Wirkung auf sie aus, es war einfach unvergleichlich. Das Mädchen beschloss den Blicken des wundersamen Mannes stand zu halten. Sah es darin die urwüchsige Kraft eines verliebten Wolfes, oder den Zauber ihrer Jugend, keiner vermochte es zu sagen. Jedenfalls konnte sie sich kaum von ihm lösen. Ergeben sank sie in seine starken Arme, die ihr Schutz und Anerkennung verhießen. Ja, sie wollte ihn heiraten und da ihre Eltern keine Einwände erhoben, wurde die Ehe sowohl im Himmel, als auch in der Märchenwelt geschlossen.
           

Freitag, 22. Juni 2012

Captain Kitty, Chef der Mäusepolizei, > Captain Kitty lag träge in seiner Hängematte und ließ sich genussvoll die Sonne auf das Fell scheinen. Seine braunweiße Zeichnung speicherte die Wärme der Strahlen und ließ ihn richtig entspannen. Ein Leben lang hatte er sich danach gesehnt einfach nur faulenzen zu können. ohne dass er seinen Arbeitsplatz verlieren würde, oder finanzielle Einbußen hinnehmen musste. Er arbeitete gerne, doch mindestens genauso lieb war ihm die Urlaubszeit. Leider gingen die Tage der Erholung immer viel zu schnell vorüber, dabei ließ ihn der Eindruck nicht los, dass ihm etwas in seinem Urlaub fehlen würde. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was es sein möge. Seufzend fragte er bei anderen Katzen nach wie diese ihren Urlaub verbrachten, aber deren Antwort war auch nicht besonders hilfreich. Die meisten besuchten ihre Eltern, Geschwister oder andere Verwandten. Freudestrahlend berichteten sie von den großartigen Begrüßungen, mit denen sie empfangen wurden. Captain Kitty hatte keine Familie mehr und bedauerte es überhaupt nicht. Er liebte seine Eigenständigkeit. Es hätte ihn sehr gestört, wenn sich jemand erlauben würde sich in sein Leben einzumischen, bloß weil sie denselben Stammbaum hatten. Auf der Suche nach Familienanschluss war er also nicht, aber worauf denn sonst? Etwas fehlte In seinem Leben und dem würde er sich hauptsächlich in seiner freien Zeit widmen können. Doch was war es? Er durfte sich einer beneidenswerten Gesundheit erfreuen, besaß ein schönes Haus, Ansehen bei Jedem, den er kannte und die Katzen wiesen ihn auch nicht ab, wenn er ihnen seine Aufwartung machen wollte. Er hätte ein rundum glücklicher Kater sein können, wenn ihn nicht das bohrende Wissen quälen würde, etwas im Leben zu verpassen. Wie ein Kern in einer Kirschtorte deren unbeschwerten Genuss störte, so versuchte er herauszufinden an was es ihm mangelte. Das Beispiel war ungeeignet um sein wahres Empfinden zu beschreiben, denn Kirschtorten mochte Captain Kitty überhaupt nicht. Mittlerweile hatte er sich damit abgefunden und akzeptiert. Seiner Arbeitszeit ging er weiterhin energiegeladen nach und versuchter voller Tatendrang jeden Wunsch zu erfüllen, der an ihn herangetragen wurde. In die Berufswahl lag sein Geheimnis. Er hatte sein Hobby zur Lebensaufgabe gemacht und war bis zum Captain der Mäusepolizei aufgestiegen. Die Aufgabe schien nicht besonders schwierig zu sein. Hauptsächlich musste er darauf achten, dass unerwünschte Nager keine Vorratsspeicher mit ihren scharfen Zähnen aufbrachen und anfingen den kostbaren Inhalt zu beschmutzen. Hätten sie nur davon gefressen, wäre das noch hinnehmbar gewesen, aber sie beschmutzten den Inhalt zusätzlich mit Kot und Urin, so dass unter Umständen ganze Container der Lebensmittelindustrie entsorgt werden mussten. Das kostete viel Geld und da hörte bei allen Unternehmern der Spaß auf. Solche Verbrechen wurden mit dem sofortigen Tod der gefassten Eindringlinge bestraf. Weil der Captain aber nicht zu gleicher Zeit in jedem Winkel des zu überwachenden Geländes anwesend sein konnte, war er zum Anführer einer großen Horde von Katzen geworden, die sich gerne von ihm leiten ließen. Humorvoll nannten sie sich die Gruppe Mäusepolizei, sie trugen aber keine Uniformen. Jedoch beschäftigten sie ein Sekretariat, damit sie immer erreicht werden konnten. Auch Vögel, wie zum Beispiel Bussarde, halfen ihnen zuweilen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprachen. Nicht immer war es einfach Frieden unter all diesen Individualisten zu gewährleisten, doch Captain Kitty konnte auf eine langjährige Erfahrung im Umgang mit seinen Helfern zurückgreifen. Schließlich hatten alle das gleiche Ziel: Mäuse fangen und verspeisen. So lange dieses Ziel nicht außer Acht gelassen wurde, konnten alle anderen Probleme gelöst werden. Der Kater war bei den übrigen Raubtieren sehr beliebt, weil er keinen seiner Mitarbeiter bevorzugte und manchmal, - auch das konnte vorkommen, - sich schützend vor dem jeweils Schwächeren stellte. Eiserne Regeln mussten eingehalten werden, dafür sorgte Captain Kitty mit vollem Körpereinsatz. Zum Beispiel durften unachtsame Vögel nicht getötet werden, auch wenn sie auf der Speisekarte mancher erfahrenen Katzen standen. Im Gegenzug dazu, landeten auch keine Jungkätzchen im Horst eines voreiligen Jägers der unverhofft aus heiterem Himmel herabstürzte. Wer sich an dieses einfache Friedensabkommen nicht halten wollte, der wurde mit vereinten Kräften aus der ganzen Gegend vertrieben. Keiner konnte sich einen besseren, vertrauenswürdigeren und zuverlässigeren Chef der Mäusepolizei vorstellen. Nicht nur aus diesem Grund flossen Tränen, als er in seinen wohl verdienten Ruhestand ging. Egal wie mutig, kräftig und erfahren ein Tier ist, einmal kommt der Tag, an dem es nicht mehr gebraucht und abgeschoben wird. Jeder war ersetzbar, auch wenn man diese Tatsache nur allzu gerne verdrängte. Augenblicklich beschäftigte sich die Gruppe mit dem Gedanken, wer war als sein Nachfolger vorgesehen war. Hatte jemand einen geeigneten Kater im Sinn? Konnte man sich für die frei gewordene Stelle bewerben und wenn ja, wo? Oder würde ein neuer Captain gewählt werden? Er musste auch so gut mit den Mitarbeitern umgehen können und durfte kein arroganter Postenreiter sein, der es nicht verstand genügend Nachfolgeaufträge an Land zu ziehen. Oder löste sich die Mäusepolizei nun ganz auf? Fragen über Fragen häuften sich auf. Alle waren gleich wichtig, doch keiner konnte sie beantworten. „Ach Captain Kitty, was sollen wir nur ohne Sie anfangen?“, schluchzte seine ehemalige Sekretärin Lady Carmen beim Abschied. Sie war eine echte Kathäuser Katze mit wunderbar blauem Fell und hellgelben Augen, die wie Bernsteine funkelten. Eine richtige Dame eben, die ihre vornehme Herkunft nicht verleugnen konnte, ohne arrogant zu werden. Lange schon war sie in Captain Kitty verliebt und hatte immer gehofft, dass er mehr in ihr sehen würde, als eine bloße Schreibkraft. Doch da sie keine Kinder bekommen konnte und den unwiderstehlichen Duft nicht verströmte, war sie trotz ihres hinreißenden Aussehens für ihn uninteressant geblieben. „Kopf hoch meine Liebe, macht einfach weiter wie bisher“, tröstete der Angesprochene die treue Seele. Sie wird ihn vermissen, das ließ ihre zittrige Stimme eindeutig erkennen. Solch wehmütige Erinnerungen an seine Amtszeit ließen ihn nicht mehr los. Viel zu früh musste er in Rente gehen, dabei strotze er immer noch vor Saft und Kraft. Stürmisches Klingen riss Captain Kitty aus seinen Gedanken heraus. „Nicht so eilig mit den jungen Pferden, ich komm ja schon“, rief er auf dem Weg zur Haustür. Ein Mitarbeiter der Mäusepolizei begehrte Einlass. Verwundert öffnete sein ehemaliger Vorgesetzter die Tür. „Was ist denn jetzt schon wieder los Carlos. Warum können Sie mich keinen einzigen Tag in Ruhe lassen? Gestern noch war ich im Büro anzutreffen und hätte mich gerne mit Ihren Problemen befasst. Aber ab heute bin ich nur noch Privat- Kater, wenn auch gezwungener Maßen.“, sagte er bedauernd. „Tut mir leid Sir, aber wir brauchen Sie dringend. Was geschehen ist duldet keinen Aufschub. Nur Sie haben die richtigen Verbindungen, um eine Katastrophe zu verhindern.“, stammelte der junge Sergeant aufgeregt. Captain Kitty wollte schon darauf hinweisen, dass ihn die Belange seiner früheren Dienststelle nichts mehr angingen, war aber war dann doch geschmeichelt, trotz seines Ruhestandes, von den früheren Kollegen gebraucht zu werden. Bereitwillig hörte er sich an, welches Problem ohne ihn nicht gelöst werden konnte. „Ach Captain, es ist etwas furchtbares Geschehen.“ „Sagen Sie bloß, die Mäuse wären ihrer Opferrolle leid geworden und fangen an sich zu wehren?“, fragte der Kater mit breitem Schmunzeln. „Nein, nein, das meinte ich nicht. Es sind Menschen, die uns Sorgen bereiten.“ „Nanu. Darauf wäre ich jetzt wirklich nicht gekommen. Menschen hegen und pflegen uns in diesem Land seit wir denken können. So manches Milchschälchen stellen sie nur hin, damit wir in ihrer Nähe bleiben. Wenn sie uns antreffen, dann möchten sie uns immerzu streicheln.“ Captain Kitty geriet ins Schwärmen. „Sagen Sie Carlos, sind Sie schon einmal von einer Menschenhand ausgiebig gestreichelt worden?“ „N… Nein. Na ja, nicht so richtig. Eine Frau fuhr mir Mal mit ihrer Tatze über den Rücken, als ich nicht schnell genug weggerannt bin.“ „Und, was haben Sie dabei empfunden?“ „Angst habe ich gehabt, schreckliche Angst.“ „Hatte diese Frau Sie bedroht, einfangen wollen oder laut ausgeschimpft?“ „Nein, das tat sie nicht.“ „Warum fürchteten Sie sich dann vor ihr?“ „Weil Menschen so groß sind und enorm viel können. Sie sind meiner Meinung nach einfach unberechenbar.“ „Aber nicht böse.“ „Oh doch. Sie wissen noch nicht, was sich Menschen erst vor Kurzem ausgedacht haben. Die ganze Mäusepolizei gerät deswegen in Gefahr, wir werden alle arbeitslos. Auch Ihre Rente kann bald niemand mehr auszahlen, wenn wir zu Hause bleiben müssen und keine Gelder von zufriedenen Kunden mehr eingehen. Wenn das nicht böse ist was dann?“ Neugierig geworden fragte Captain Kitty nach, von was er eigentlich sprechen würde. „Von einem Gesetzesentwurf, der in Vorbereitung ist. Zum Schutze aller Tiere und Autofahrer, sollen Katzen nicht mehr frei herumlaufen dürfen. Sie hätten Mal sehen sollen, welche Feste Mäuse feierten, als unter ihnen bekannt wurde, was Menschen vorhaben. Gesang und Trommelfeuer erklang aus jeder Häuserecke. Obwohl wir immer noch jagten, versteckte sich keine Maus mehr vor uns. Schlimmer noch, sie sind furchtbar frech geworden und strecken uns die Zunge raus, wenn wir angreifen wollen. Mich kannst Du vielleicht kriegen, aber meine Kinder sind vor Dir in Sicherheit. Es leben die Tierschützer, riefen sie schadenfreudig und lachten uns aus. Keine Katz mag, wenn sie ausgelacht wird, egal von wem. Aber das wissen Sie ja selbst. Ich sage Ihnen, es gibt keinen Respekt mehr unter den Mäusen. Manche Kollegen mussten bereits ärztlich behandelt werden, sie hielten die ungeheuerlichen Demütigungen ihrer ehemaligen Opfer einfach nicht mehr aus. Haben Sie denn gar nichts davon mitbekommen?“ „Das ist ja zum Mäusemelken!“, rief Captain Kitty in höchster Erregung. Mäusemelken war der schlimmste Ausdruck den er sich vorstellen konnte. Nur wenige Mitarbeiter hatten ihn jemals in diesen Tönen schimpfen hören. Doch dieses Mal musste er seine Entrüstung zum Ausdruck bringen. Während seines gesamten Dienstes hatte er so etwas Unglaubliches nicht erleben müssen. Immer waren Katzen gefürchtete Feinde von Mäusen und nun sollte diese naturgegebene Ordnung auf einmal nicht mehr gelten? Nein! So etwas war undenkbar. Dem musste unbedingt ein Riegel davor geschoben werden. „Sie haben ganz richtig gehandelt, mich um Hilfe zu bitten, mein lieber Carlos.“, meinte der Captain anerkennend und klopfte dem schüchternen Sergeant wohlwollend auf die Schultern. „Niemand hat bisher so viele Beziehungen zu Menschen aufbauen können, wie ich. Da sämtliche Gesetze, auch die an denen wir uns halten müssen, allein von Menschen gemacht werden, können auch nur sie dieses Vorhaben verhindern. Wir werden bei der Gesetzgebung nicht gefragt, sondern müssen hinnehmen was kommt.“ „Aus Ihrem Mund klingt das gerade so, als hätten Sie eine Idee?“, fragte Carlos hoffnungsvoll. Ihm war anzusehen wie sehr er darunter litt, von seinem Lieblingsfutter nicht mehr gefürchtet zu werden. „Hab ich auch, doch zuvor benötige ich alle Informationen, die Sie mir geben können.“ „Die haben Sie doch schon. Was wollen Sie denn noch wissen?“ „Zum Beispiel weiß ich immer noch nicht, was es mit Autofahren zu tun hat, wenn wir eingesperrt sind.“ „ Ganz einfach. Nehmen wir einmal an, unser Bruder oder Schwester rennt über die Straße und ein Autofahrer hat es gesehen. Dann kann es zu einem Unfall kommen, weil er ausweichen will. Rast er gegen ein Hindernis, ist sein Auto kaputt.“ „Die Katze aber ist schwer verletzt, oder im schlimmsten Fall tot.“ „Ich sehe, Sie wissen, was ich meine.“ „Nein weiß ich nicht. Helfen Sie mir bitte auf die Sprünge?“ „Die Tatsache, dass Unfälle von freilaufenden Katzen ausgelöst werden können, wird zum Anlass genommen unsere Freiheit zu verbieten. Bei Hunden war ein ähnliches Gesetz schon sehr erfolgreich. Heute läuft kein Hund mehr ohne von seinem Herrchen an der Leine geführt zu werden herum. Dieses Gesetz will man nun auch auf Katzen anwenden. Zu allem Übel halten sich solche Leute auch noch für wahre Tierfreunde. Nichts anderes, als die Unversehrtheit von Lebewesen haben sie im Sinn. Dagegen ist schwer etwas zu sagen.“ „Dabei wurde jedoch ganz vergessen, dass manche Hunde Menschen angefallen haben und fürchterlich verletzten, ohne dass es einen Grund dafür gab. Oft genug endeten solche Attacken im Hospital. Haben Sie schon einmal gehört Kinder oder ältere Leute wären von einer Katze Krankenhausreif gebissen worden?“ „Nein, niemals. Mehr als ein paar Kratzer dürfte noch keiner davongetragen haben, wenn wir uns gegen allzu grobe Behandlung wehren mussten und solche Schrammen heilen schnell.“ „Trotzdem sind manche Menschen ganz begeistert von diesem Entwurf. Sie wollen gleiche Bedingungen für ihre Haustiere. Dass sich nur Hundebesitzer dafür stark machen halten sie für reinen Zufall. Alles Andere sei üble Nachrede. „Hm. Mal sehen, was Betreiber von Getreidemühlen und Großbäckereien dazu sagen. Diese Unternehmer waren bisher unsere besten Auftraggeber und haben in der Menschenwelt hohes Ansehen. In dieser Angelegenheit ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen worden, darauf können Sie sich verlassen.“ Einigermaßen beruhigt verließ Sergeant Carlos das Haus. Er hatte getan was er konnte, mehr ging nicht. Kurz nach dem Besuch machte sich Captain Kitty auf den Weg zur Mäusepolizei und stürmte ins Sekretariat. „Hallo Lady Carmen können Sie mir eine Verbindung mit Herrn Schneider von der Ebenhardter Mühle herstellen? Ich könnte auch von zu Hause aus anrufen, aber wenn Sie das für mich tun, dann klingt das viel offizieller.“ Gern erklärte sich die Sekretärin dazu bereit. Den ganzen Tag lang hatte sie noch nichts zu tun gehabt und ihr war langweilig. „Eilt es?“, fragte sie mit wissendem Lächeln. „Wie immer. Lassen Sie sich um Himmels Willen nicht vertrösten. Erzählen Sie etwas von traumatisierten Mitarbeitern und dem Versprechen, das Herr Schneider mir einst gab. Ich bleibe hier bis Herr Schneider Ihnen gesagt hat, wann er mich empfängt.“ Routiniert hob Lady Carmen den Hörer ab und sprach einige Minuten darauf mit der gewünschten Person. Welch eine Stimme. So eine charmante Katze würde ich auch nicht abwimmeln. Warum habe ich nicht früher bemerkt, was für ein wunderbares Wesen im Vorzimmer sitzt? Lady Carmen ist die Seele der ganzen Dienststelle und ich blöder Schnurrbartwackler bildete mir immer ein, ich wäre es. „Wenn Sie sich sofort auf den Weg machen könnten, hätte Herr Schneider Zeit für Sie“, riss Lady Carmen den verwunderten Kater aus seinen Gedanken heraus. „Sagen Sie ihm, dass ich komme.“ Mit einem Kuss auf der Stirn wollte er sich bei ihr bedanken und aus dem Büro herauseilen, drehte sich an der Tür jedoch noch einmal um. „Sagen Sie Lady Carmen, kennen Sie Herrn Schneider eigentlich von Angesicht zu Angesicht?“ „Nein, nur von Telefon her. Er muss aber sehr sympathisch sein, das erkenne ich daran, wie er mit mir redet aber warum fragen Sie?“ „Ach Nichts, ich hatte nur den Eindruck, weil Sie so vertraut miteinander reden. Wollen Sie ihm einmal persönlich gegenüberstehen?“ „Meinen Sie das wäre möglich?“ „Warum nicht? Vorausgesetz, Sie können hier weg.“ „Ich denke es wird niemand merken, wenn ich nicht am Telefon sitze. Seit Sie nicht mehr da sind ist im Büro sowieso nichts mehr los. Wenn ich den Anrufbeantworter einschalte, reicht das völlig aus.“ „So schnell macht sich bemerkbar, dass ich in Rente gegangen bin? Kaum zu glauben. Worauf warten wir dann noch? Die Arbeit ruft. Los geht’s, auf zu Herrn Schneider!“ Lächelnd streckte Captain Kitty seine Pfote der aufgeregten Sekretärin entgegen und verließ mit ihr im Schlepptau das Gebäude der Mäusepolizei. Die Ebenhardter Mühle lief auf Hochtouren. Lastwagen standen Schlange, um feinstes Mehl in ihre Spezialbehälter geblasen zu bekommen. Goldene Griffe an Bürotüren verrieten Luxus pur. Lady Carmen war tief beeindruckt. In dieser modernen Anlage sollten sich Mäuse herumtreiben? Das war kaum vorstellbar und doch mussten auch dort diese Nager bekämpft werden. Herr Schneider ging hocherfreut auf Captain Kitty zu. Mit ihm hatte er immer gerne Geschäfte gemacht. Selten fand er einen Partner, der so zuverlässig war. „Was musste ich von traumatisierten Katzen hören?“, fragte er schmunzelnd. Daraufhin klagte der Mäusepolizist sein Leid. Erst hörte der Geschäftsmann nur mit halbem Ohr zu, denn was ging ihn der Seelenzustand von fremden Katzen an. Als der Captain aber die unmittelbaren Konsequenzen zur Sprache brachte und den Ausfall ganzer Produktionstage in Aussicht stellte, weil sich Mäusedreck im Mehl befand, war Herr Schneider wie elektrisiert. „Sie haben Recht Captain, so ein Gesetz muss unbedingt verhindert werden. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und dass Sie zu mir gekommen sind.“ Danach entschuldigte sich Herr Schneider, er hätte einige dringende Anrufe zu tätigen. Captain Kitty und seine Begleitung wollten sich schon diskret zurückziehen, wurden aber mit Handzeichen zurückgehalten. „Bleiben Sie nur hier, dann kann ich Ihnen sofort berichten, was gegen wir in dieser Angelegenheit tun werden.“ „Wir?“, fragte de Mäusepolizist. „Selbstverständlich wir. Ich muss doch auch andere Firmeninhaber von einer drohenden Mäuseplage unterrichten. Gemeinsam sind wir stark. Lassen Sie mich nur machen. Zusammen bekommen wir das schon hin.“ Dann rief Herr Schneider seine Sekretärin. „Frau Klein, bieten Sie doch bitte unseren Gästen eine kleine Erfrischung an.“ Eine junge, hochgewachsene Frau mit blonden kurz geschnittenen Haaren betrat den Raum und wandte sich den beiden Katzen zu. „Was darf ich Ihnen bringen Tee oder Kaffee?“ „Nein Danke, aber wenn Sie etwas Milch für uns hätten, das wäre nett.“, schaltete sich Lady Carmen ein. Die Sekretärin entschuldigte sich wegen ihrer Gedankenlosigkeit und kam zehn Minuten später mit einem Tablett wieder, auf dem zwei Glasschälchen standen, die randvoll mit leckerer Milch gefüllt waren. Die beiden Katzen hatten ihre Milch noch nicht richtig aufgeleckt, da kam Herr Schneider mit zuversichtlicher Miene auf sie zu. „Ich kann Sie beruhigen, der Gesetzesentwurf wird verworfen werden. Wo kämen wir denn hin, wenn Politiker ihre Vorstellungen vor wirtschaftlichen Notwendigkeiten stellen könnten? In welchem Land leben die eigentlich? Noch ist zum Glück nichts passiert, denn es war ja nur von einem Entwurf die Rede. Der wird zurückgezogen, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Die Öffentlichkeit erfährt davon nichts, wie immer.“ Nachdem die Anspannung von Herrn Schneider gewichen war, schaut er bewundernd auf Lady Carmen. „So edle Begleitung habe ich Ihnen gar nicht zugetraut Captain Kitty, Sie überraschen mich immer wieder.“ Lady Carmen fragte er, welcher Familie sie angehören würde. In dieser Gegend hatte er noch nie so eine Schönheit gesehen. „Ich bin eine Kathäuser Katze russisch blau“, antwortete sie geschmeichelt. Es entwickelte sich ein Gespräch aus Nettigkeiten, bei dem Lady Carmen den Unternehmer gekonnt um ihre eingezogene Kralle wickelte. Plötzlich spürte der Captain einen Stich in der Herzgegend, den er noch nicht kannte. Er war eifersüchtig geworden. Was wollte seine ehemalige Sekretärin mit einem Menschen anfangen? So etwas konnte doch niemals gut gehen und das wusste sie auch. Doch warum flirtete sie mit ihm dann so hemmungslos mit ihm herum? Er konnte sich das Geturtel der Beiden nicht länger anhören und gab vor, an diesem Tag noch einen wichtigen Termin wahrnehmen zu müssen. Augenblicklich verabschiedete sich Herr Schneider von seinen Besuchern. Auf dem Weg nach Hause, beglückwünschte ihn Lady Carmen zu dem großen Erfolg. Eine große Last war von den Schultern des Captains gefallen. Er hatte die Katzenwelt vor großem Schaden bewahrt und konnte zu Recht stolz darauf sein. Wie gewohnt legte sich Captain Kitty gemütlich in seiner Hängematte und genoss den Sonnenschein. Dass Lady Carmen in sein Leben getreten war, sah er als gütige Fügung des Schicksals an. Sie kümmerte sich rührend um ihn und öffnete ihm die Augen, Endlich wusste der Captain wonach er immer gesucht hatte. Es war Kultur gewesen, von der er bisher nichts wissen wollte. Doch dass sie sich mit solcher Macht bei ihm melden würde, hätte er nicht gedacht. Gemeinsam mit seiner neuen Partnerin gingen sie in Museen, lasen Bücher, die gebildete Katzen kennen sollten, sie gingen ins Konzert und zur Not auch in die Oper. Opernbesuche waren für Captain Kitty ein Graus, er konnte diese Katzenmusik nicht leiden. Sie tat ihm in den Ohren weh. Aber um Lady Carmen einen Gefallen zu tun, ließ er auch das über sich ergehen. Lady Carmen war Kultur- besessen und er ihr williger Schüler. Damit sein Leidensdruck nicht zu groß wurde, besuchten sie auch historische Baudenkmäler, Burgen oder Schlösser. Hey, war das ein Spaß in und um diese Gebäude herumzuklettern. Am liebsten waren Captain Kitty Ruinen, auch wenn er ständig aufpassen musste auf keinem lockeren Stein zu treten und sich zu verletzen. Als Wegzehrung fingen sie sich schnell ein paar Mäuse, die auch dort zu finden waren. Herr Schneider hatte sein Ehrenwort gehalten, von rebellischen und angstfreien Mäusen war keine Spur mehr zu sehen. Hatte es sie jemals gegeben, oder gehörte diese Geschichte auch nur zu den vielen Legenden, die sich um Captain Kitty rankten? Er wusste es nicht, ihm war keine freche Maus begegnet. Alle rannten um ihr Leben wenn sie ihn sahen und das war auch gut so. Von Lady Carmen wollte er sich nie mehr trennen. Sie war gerade dabei ihm eine vornehmere Ausdrucksweise anzugewöhnen. Wenn er diese letzte Hürde meistern konnte, dann öffneten sich Türen zur besseren Gesellschaft, die zuvor immer für ihn geschlossen blieben. Liebevoll schaute er seine Partnerin an. In Anbetracht seiner Verdienste wird sie darauf hinwirken, dass man ihn an höchster Stelle zum Sir Captain ernennt. Lady Carmen spürte seinen Blick. Ein leichtes Kribbeln durchfuhr ihren ganzen Körper. Danach hatte sie sich immer gesehnt. Wie es sich für eine Dame geziemt, ging sie zu ihrem Angebeteten und ergriff schüchtern seine Pfote. Zu zweit konnte das Leben wundervoll sein.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Drachenaufzucht
Gernot Sommerwein wohnte mit seiner Familie auf einem Gehöft, das etwas abgelegen von der nächsten Ansiedlung, am Fuße des Drachenfelsens lag. Er war Biologe und sehr Naturverbunden. Seine Frau Iris teilte mit ihm die gleiche Leidenschaft für heimische Pflanzen und Tiere. Beide waren froh gewesen, dieses große und für ihre finanziellen Verhältnisse bezahlbare Anwesen gefunden zu haben. Ihr Sohn David störte es nicht, dass er den weiten Weg zur Schule mit dem Fahrrad zurücklegen musste. Jeden Morgen genoss er den frischen Wind, der ihm dabei um die Nase wehte. Im Winter aber und bei Regenwetter, spielte seine Mutter lieber Familientaxi, als dass ihr Sohn krank wurde, oder unnötiger Weise in Gefahr geriet. David streifte liebend gerne in der Gegend umher. Bei einem seiner Spaziergänge entdeckte er zerbrochene Eischalen in deren Mitte ein merkwürdiges Wesen saß. Es hatte keinen Flaum, wie andere Kücken, die gerade geschlüpft waren, sondern goldgelbe Schuppen bedeckten seinen Körper. Auch besaß es keinen Schnabel. Stattdessen endete sein keilförmiger Kopf mit einer weichen Schnauze, aus der ein spitzes Horn ragte. An den Füßen waren ihm Schwimmflossen gewachsen, welche gar nicht zu den fledermausähnlichen Flügeln passen wollten. Mit seinem langen, fingerdicken Schwanz wedelte es aufgeregt hin und her. Noch nie hatte David etwas Ähnliches gesehen und wagte auch nicht zu bestimmen, was für ein Tier es sein könne. Zwar kam ein wager Verdacht in ihm auf, doch den schob er ganz schnell wieder bei Seite. So etwas ganz und gar Unmögliches erlaubte er sich nicht einmal zu denken. Langsam beugte sich David zu dem Wesen nieder, um es aufzuheben. Jeden Moment rechnete er damit gebissen zu werden, doch nichts geschah. Dem Kleinen schien die Wärme seiner menschlichen Hand zu gefallen. Vertrauensvoll schmiegte es sich eng in die geformte Mulde hinein. Zutiefst gerührt nannte David das Findelkind „kleiner Herzensdieb“ und eilte mit ihm nach Hause. Iris wollte ihren Sohn ausschimpfen, weil er trotz aller Ermahnungen ein aus dem Nest gefallenes Kücken angefasst hatte. Erst auf dem zweiten Blick erkannte sie, dass David gar kein Kücken in Händen hielt. Das gefundene Drachenbaby entzückte sie so sehr, dass sie keinen Zweifel über seine Art aufkommen ließ. Wer wolle behaupten es gäbe keine Drachen, wenn sie ihn direkt vor Augen hatte? Außerdem wohnten sie am Drachenfelsen, was der Briefträger jeder Zeit bestätigen konnte. Warum wohl wurde diese Steinformation so bezeichnet? War das etwa kein Hinweis, dass vor langer Zeit Drachen diesen Felsen umkreisten? Klägliches Krächzen riss Iris aus ihren Gedanken heraus. Das Baby hatte Hunger. Fragend sah Iris ihren Sohn an. Womit fütterte man Drachen? Ein kurzer Blick ins Internet konnte ihr auch keine zufriedenstellende Auskunft geben. Alles Mögliche erschien durch die Hilfe von Google auf dem Monitor, wenn man den Suchbegriff Drachenbaby eingab, nur keine Ernährungshinweise. David vermutete, dass es Würmer oder Maden fressen würde, was sie natürlich nicht im Haus vorrätig hatten. Eilig radelte er ins Dorf, um in einem Anglergeschäft Mehlwürmer zu kaufen. Während ihr Sohn unterwegs war, dachte Iris darüber nach, womit sie dem Kleinen einen Platz, bereiten könne, auf dem es sicher und bequem lag. Die Schublade eines alten Schranks, der seine besten Zeiten längst hinter sich gelassen hatte, war ihrer Meinung nach eine geeignete Unterlage. Ausgelegt mit alten Zeitungen würde es eine Weile mit diesem Notbehelf gehen, bis eine andere Lösung gefunden wurde. Zu Hause angekommen bestand David darauf, die ersten Fütterungsversuche zu machen, doch das Drachenbaby spuckte alles sofort wieder aus. Die Enttäuschung war riesengroß. Ratlos überließ er seiner Mutter die Ernährung. Iris dachte sich ganz unprofessionell, womit sie ihren Sohn großgezogen hatte, das könne auch dem kleinen Drachen nicht schaden. Ohne sich gegenüber ihrem Mann rechtfertigen zu müssen kochte sie Griesbrei, fügte extra viel Zucker hinzu, rührt ihn im Wasserbad kalt und hob dann noch ein rohes Ei unter. Mit dieser Kalorienbombe bewaffnet trat sie an den hungrigen Schreihals heran. Siehe da, der Brei schmeckte ihm. Er fraß, bis sein kleiner Magen nichts mehr aufnehmen konnte. Müde sank danach der schlangenartige Kopf auf das frisch gemachte Lager und kurz danach schlief der fremde Gast ein. Die Ruhepause kam David und Iris sehr gelegen, sie konnten die Zeit nutzen um sich zu überlegen wie es nun weitergehen sollte. Iris wollte, dass ihr Mann ein Wörtchen mitzureden habe, denn schließlich sei er als Biologe gewissermaßen vom Fach und könne wertvolle Ratschläge geben. David protestierte heftig und meinte weil er das Tier gefunden habe, würde es ihm auch gehören. Seine Mutter hielt dagegen, es wäre falsch ein Lebewesen als Eigentum anzusehen, es sei doch kein Gegenstand. Sie stritten über die sich ergebene Verantwortung und Kosten, die bei der Aufzucht anfallen würden. Nicht immer waren die Worte so böse gemeint, wie sie klangen. Als Gernot Sommerwein nach Hause kam, waren die Gemüter von Mutter und Sohn immer noch stark erhitzt. Verwundert fragte er nach, was den Stein des Anstoßes gegeben haben mochte. Ohne zu antworten zog Iris ihren Mann in die Ecke, wo das Drachenbaby ruhte. Wenn es jemals etwas gab, das Gernot die Sprache verschlagen hatte, dann war es dieser Anblick. Fasziniert kniete er nieder und berührte sanft das schlafende Tier. Es erwachte und schmiegte sich sogleich an Gernots Hand an. Dies nutzte er als gute Gelegenheit um zu betasten, was er mit eigenen Augen sah. In Gedanken erschien er schon auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen, die ihn als Entdecker einer Fleischgewordenen Sagengestalt feierten. Ruhm, ein Ehrendoktortitel und viel Geld wären ihm gewiss. Doch dann stellte sich Gernot vor, was Forscher und solche die sich dafür hielten, mit dem kleinen Kerl anstellen würden. Im Dienste der Wissenschaft müsste das Drachenkind viele Qualen erleiden, bis es endlich sterben würde. So etwas wollte er keinesfalls zulassen. Tief seufzend verabschiedet er sich von seinen Träumen, stand auf und sagte, dass sie die Anwesenheit des jungen Drachen unbedingt Geheim halten müssen. Niemand dürfe erfahren, welches Tier sie im Haus aufziehen würden, das Leben des Kleinen hinge von ihrer Verschwiegenheit ab. An Eindringlichkeit ließ es Gernot nicht mangeln. Zur Unterstützung seiner Rede malte er seiner Familie vor Augen, welche wissenschaftlich begründete Folter dem Drachen sonst bevorstehen würde. Erschrocken versprachen Iris und David sofort, niemanden etwas zu sagen und auch keine Fotos im Internet zu veröffentlichen. Der Mutter fiel das Versprechen leicht, doch David bedauerte es im Nachhinein. Musste sein Vater immer gleich so schwarz sehen? Woher wollte er eigentlich wissen, was geschehen würde? Er hatte sich schon so darauf gefreut mit seiner Webcam ein Video bei You tube ins Netz zu stellen und mehrere tausend Hits zu bekommen. Damit wäre er bestimmt ein Star in seiner Schule geworden. Doch mit diesen Schreckensbildern im Kopf hatte sein Vater ihm jede Freude wieder versaut. Gernot stellte mit Iris gemeinsam den Speiseplan des Drachenbabys um. Anstatt Griesbrei würde ihr Zögling in Zukunft rohes Ei, Hackfleisch, oder auch zerkleinerten Fisch zu fressen bekommen. Auch einen Namen bekam er. Draco war die lateinische Bezeichnung für Drachen. Gernot fand es ganz passend, das Tierchen so zu nennen. Weil Draco leicht zu merken war, hatten weder Iris, noch David etwas dagegen. Jeder der Sommerweins tat sein Möglichstes, um den kleinen Drachen großzuziehen und dieser dankte es ihnen immer wieder mit bewegendem Zeigen seiner Zuneigung. Niemand in der Familie mochte sich noch vorstellen, ohne ihn zu sein. Doch Drachen wachsen schnell heran und lernen begierig. Die Sprache seiner Pflegeeltern beherrschte er schon nach sechs Monaten und das Fliegen schaute er sich von den Vögeln ab. Fehlte nur noch, dass er Davids Computer in Beschlag nahm, aber soweit kam es nicht mehr. Gernot begann seine Familie schonend darauf vorzubereiten, dass Draco nicht mehr lange bei ihnen bleiben könne. Mittlerweile war der Drache so groß geworden, dass trotz aller Vorsicht, seine Anwesenheit kaum noch verheimlicht werden konnte. Auch ihm war das intelligente Wesen aus der Sagenwelt ans Herz gewachsen, deshalb schob er den notwendigen Abschied immer weiter hinaus. Wer sollte es Draco sagen? Jeder in der Familie drückte sich davor. An einem herrlich warmen Sommerabend, sie saßen alle mit bleiernem Schweigen beisammen, erhob sich plötzlich der Drache und sprach mit krächzender Stimme, er müsse endlich zu den Seinen. Schon lange habe er sie nach ihm rufen gehört. Es dränge ihm zu ihnen zu fliegen, doch er wollte nicht undankbar sein, nur deshalb sei er noch da. Erleichtert sprangen Iris, Gernot und David auf. Ein Kilo schwerer Stein hatte auf ihrer Brust gelegen, doch nun waren sie von dieser Last befreit worden. Sie fielen dem erstaunten Redner um den Hals und erzählten ihm von dem Problem, das sie seit einigen Tagen quälte. Draco war auch froh, hatte er doch erwartet, mit heißen Tränen und unerfüllbaren Bitten zurückgehalten zu werden. So war ihm seine Familie viel lieber. Sie unterhielten sich und scherzten ein letztes Mal miteinander, dann breitete Draco seine Schwingen aus und erhob sich in den Himmel. Dreizehn Jahre lang hatte die Familie Sommerwein von Draco weder etwas gesehen, noch gehört. Sie beruhigten sich damit, dass dies ein gutes Zeichen sein müsse, trotzdem waren sie von ihm enttäuscht. All ihre Liebe und Fürsorge hatte er jahrelang genossen und nun sollten sie ihm noch nicht einmal den kleinsten Gruß wert sein? Kurzes Winken im Vorbeifliegen hätte ihnen schon genügt, aber auch darauf warteten sie vergebens. Es war im Vorfrühling, kurz nach der Tagesschau, als Draco vor ihrer Haustür stand. Seine Zieheltern freuten sich riesig ihn zu sehen. Bevor sie ihn mit Fragen überhäufen konnten bat Drago seinen Ziehvater, mit ihm einen Ausflug zu machen und Licht mitzunehmen. Gernot erklärte sich hocherfreut dazu bereit, die Taschenlampe steckte er gleich in einer seitlichen Hosentasche. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen die Frage wörtlich zu nehmen. Erst als Draco seinen Kopf flach auf den Boden legte, wurde ihm mulmig zumute. Als ob ihm Schuppen von den Augen fiel, wurde ihm schlagartig klar, worauf er sich eingelassen hatte. Doch er brachte es nicht fertig, im letzten Moment noch einen Rückzieher zu machen. Bisher hatte er immer Wort gehalten, so wollte er es auch dieses Mal nicht brechen. Todesmutig hob er sein rechtes Bein über den dargebotenen Hals. Draco erhob sich ganz vorsichtig, immer darauf immer darauf bedacht, dass sein Vater nicht von den Schultern glitt. Nach den ersten Minuten gewann Gernot seine Sicherheit zurück. Mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelnd rief er Iris euphorisch zu, er sei nun ein Drachenreiter und wie wundervoll sich das anfühlen würde. Diesem Glücksgefühl bereitete Draco ein schnelles Ende. Er fragte kurz „fertig?“, Gernot bestätigte die Frage und danach erhob sich der Drache in die Luft. Höher und höher stieg er mit seinem menschlichen Vater auf. Als sie auf einem Vorsprung des Drachenfelsens landeten, zitterten Gernots Knie vor Aufregung. Die Erde lag so weit unter ihnen, dass es Mühe machte Häuser und Landschaften auszumachen. Verwundert sah er, wie Draco mit seinen kraftvollen Hinterbeinen einen Felsbrocken zur Seite drückte. Dahinter wurde eine Höhle sichtbar. Gernot dachte erst dort würden sich die anderen Drachen verstecken, doch beim Nähertreten sah er, dass der Raum mit Goldgegenständen angefüllt war. Im Schein der mitgebrachten Taschenlampe glänzten Ringe, Becher, Ketten, Münzen und Statuen über- und nebeneinander. Dies alles wollte Draco ihm schenken. Seine Verwandten hatten den Schatz über viele Jahrhunderte hinweg zusammengetragen. Kriege wurden deswegen geführt und Königreiche gestürzt. Nur einem weisen Mann wie er es war, könne er so großen Reichtum anvertrauen. Gernot fühlte sich geehrt doch lehnte es ab diesen Schatz zu besitzen. Blut klebte an ihm und damit wollte er nichts zu tun haben. Sein Schatz wartete zu Hause auf ihn und hatte bestimmt ein leckeres Essen zubereitet. Er bat Draco den Eingang wieder gewissenhaft zu verschließen, damit kein Bergsteiger ihn durch Zufall entdecken könne. Draco war ein bisschen enttäuscht, weil sein Geschenk nicht angenommen wurde. Doch als er seinen Ziehvater nach Hause gebracht hatte und die tiefe Liebe des Ehepaares spürte, fing er an zu verstehen.

Samstag, 15. Oktober 2011

Dezembermärchen - Sieg der Götter


Sieg der Götter

Bedrohliche Schatten huschten umher, krochen in Steinspalten, schlüpften durch Ritzen bewohnter Häuser und durchsuchten verlassene Ruinen. Wälder und Täler hatten sie schon nach der Frau abgesucht, doch nichts gefunden. Irgendwo musste sie sich versteckt haben, die Zeit drängte.
Noch eine erfolglose Nacht, dann würde die Wintersonnenwende eintreffen. Wieder einmal hätten sie ihr Ziel nicht erreicht. Jedes Jahr strebte eine finstere Gruppe die Weltherrschaft an. Bisher ohne Erfolg, doch sie gaben nicht auf.

„Los, los, macht schon, es darf doch nicht wahr sein, dass sich diese Göttin unauffindbar versteckt hat. Sie ist hier, ich kann ihre Anwesenheit beinahe riechen. Denkt an die Wonnen, die uns bevorstehen, wenn sie ihr Kind nicht auf die Welt bringen kann, das wird euch bei der Suche antreiben!“
Der Schattenkönig versuchte mehr Druck auf seine Untergebenen zu machen, doch er wusste ganz genau, dass sie bereits ihr Möglichstes taten.

„Wenn du die Anwesenheit von Sulis wahrnehmen kannst, warum holst du sie dann nicht selbst aus ihrem Unterschlupf heraus?“, fragte einer der jüngeren Gesellen.
„Werd erst mal erwachsen, bevor du frech werden darfst. Vor dir muss ich mich nicht rechtfertigen. Nie und nimmer!“
Empört plusterte sich der Anführer auf, so dass der Untergebene in die Dunkelheit zu versinken drohte.
Oh ja, es gab noch Schlimmeres, als Finsternis. Vor dem absoluten ausgelöscht sein hatten sogar Schatten Angst. Diese Strafe konnte der König gegen seine Diener verhängen, wenn ihm danach war. Doch er tat es nur in Ausnahmefällen und wenn seine Autorität angezweifelt wurde.

„Ich bitte um Vergebung. Nie wieder werde ich es wagen Euer Gnaden mit dieser Frage zu belästigen“, beeilte sich der Gescholtene zu versichern. Aus Angst vor der Macht seines Herrschers begann er zu zittern.
„Wir sind wohl alle zur Zeit etwas überreizt“, lenkte der Schattenkönig beruhigend ein.
Er hatte gar nicht vor seinen Diener zu verschlingen, denn was wäre ein Regent ohne Untertanen? Die Drohungen wurden jedenfalls ernst genommen und das beruhigte ihn sehr.

Der Morgen graute, die Suche musste beendet werden. Erschöpft versammelten sich die Schatten in einer eiskalten Grotte. Sie sprachen sich gegenseitig Mut zu, doch das konnte ihre getrübte Stimmung nicht beleben.
Damit seine Getreuen auf andere Gedanken kamen, erzählte der Schattenkönig von der letzten Eiszeit, die sich vor achtzehntausend Jahren in dieser Region ausbreitete.
Damals hielt meterdickes Eis das Land in einem frostigen Würgegriff gefangen. Alles Leben schien erstickt zu sein. Außer unendlicher Ruhe gab es nichts. Älteren Schatten hatten die beißende Kälte noch erfahren dürfen. Staunend lauschten die Jüngeren den Berichten vom verlorenen Paradies.

In der Zwischenzeit bereitete sich die keltische Göttin Sulis in der finstersten Tiefe der Erde auf eine Geburt vor. Diesen Platz wählte sie bewusst aus, denn kein Schatten vermutete jemals, dass sie sich ausgerechnet im Zentrum ihres dunklen Reiches verstecken würde. Heimlich und zur stillsten aller Stunden kam ihr Lichtbaby zur Welt.
Nun musste das Kind nur noch zur Sonne aufsteigen, um dem Himmelskörper frische Kraft zu verleihen. Danach würden die Tage länger werden und die Macht der Schatten war gebrochen. Was tot und verloren schien, hatte nur tief geschlafen.
Am einundzwanzigsten Dezember, der längsten Nacht des Jahres, erfüllte sich die Prophezeiung vom Wiedererwachen allen Lebens

Langsam erreichte Sulis mit ihrem Baby im Arm die Erdoberfläche. Kaum schaute ihr Kopf hervor, wurde sie entdeckt.
Voller Zynismus rief der Schattenkönig
„Welch eine Freude meine Liebe. Erhebe dich und gönne mir deinen Anblick. Jahrtausendelang habe ich nach dir gesucht und jetzt stehst Du plötzlich vor mir. Was für ein Triumph, ich kann es noch gar nicht fassen. Was verbirgst du denn hinter deinem Rücken? Ist das etwa ein Geschenk für mich? Aber das wäre doch nicht nötig gewesen. Ich meine, so gute Freunde sind wir ja auch wieder nicht.“
Dann fuhr im herrischen Ton fort
„Mach schon, gib den Jungen her!“
„Nein, meinen Sohn bekommst Du nicht!“, verteidigte die Göttin ihr Kind.
„Wer will mich denn daran hindern? Ich sehe weit und breit niemanden, der das könnte“.
„Denk an meine Macht“.
„Ha, ha, ha, deine Macht. Die kannst du vergessen. In all den Jahren habe ich dazu gewonnen, während du es dir hast gut gehen lassen“.
„Geh mir aus dem Weg, oder du wirst im Licht meines Babys vergehen“.
Zu den umherstehenden Dienern meinte der König belustigt,
“Huuu, wie ich mich vor ihr fürchte!", der Schattenkönig und sein Heer, das ihn umringte, brach in höhnisches Gelächter aus.
"Auch einer Göttin sind Grenzen gesetzt, nur weiß sie das noch nicht.
Zeigen wir ihr, wer hier die Macht hat“.

Auf sein Zeichen hin verschmolzen die dunklen Gesellen zu einer dichten Masse, die immer schwerer und undurchdringlicher wurde. Bald würde auch das Licht darin verschwinden.
Sulis erkannte die Gefahr sofort. In ihrer Not rief sie Teutates an. Er war ein richtiger Kriegsgott und konnte ihr beistehen.
„Spar dir die Mühe und rück das Kind endlich raus. Dann kannst du zusehen, wie ich es verschlingen werde und gleich danach bist du dran“, verhöhnte der Schattenkönig die Mutter in Not.

Kaum waren seine Worte verklungen, ertönte ohrenbetäubender Lärm. Ein Feuerring umloderte Sulis und Kind. Entsetzt wichen die dunklen Wesen zurück.
Mit Donnerhall verkündete Teutates:
„Wenn du dich mit jemand anlegen willst, dann stehe ich dir gerne zur Verfügung, aber lass meine Schwester in Ruhe. Wie kannst Du es wagen, Hand an eine Göttin zu legen, du niedrige Kreatur!“
Flammen züngelten empor, sogar der Himmel glühte.
Der Schattenkönig wollte sich ins Erdreich verdrücken, doch er wurde vom Kriegsgott mit gleißenden Blitzen festgehalten.
„Bleib!“, herrschte Teutates den Schattenkönig an. „So schnell kommst du mir nicht davon“.
Wie ein Wurm zappelte der finstere Herrscher in panischer Angst.
„Schau dich nur um, wo sind deine Getreuen jetzt hin?“
Die Geister der Nacht hatten sich verzogen.
„Elendes Geschmeiß! Glaubst die Weltherrschaft an dich reißen zu können und den ganzen Planeten ins Verderben zu stürzen. Niemals hätten wir Götter das zugelassen.“
In Todesangst wimmerte der König um Gnade.
Unerwartet sanft setzte Teutates seinen Widersacher zu Boden.
„Ruf deine Mitstreiter zusammen, ich werde ein Urteil über euch fällen.“
Dem Schicksal ergeben kamen alle Schatten aus ihren Löchern gekrochen. Das erste Mal hatten sie wahre Macht erlebt.

„Weil ihr es gewagt habt meine Schwester und ihren Sohn töten zu wollen, werdet ihr fortan gefangen sein. Nie wieder muss sich Sulis vor euch verstecken. Wo immer Licht ist, werdet ihr ein Abbild von dem, was beleuchtet ist, auf die Erde zeichnen. Egal, ob Tier, Pflanzen oder Gegenstand. Es ist euch nicht mehr erlaubt sich selbstständig aufzurichten. Als Sklaven müsst ihr im Staube kriechen. Von jetzt an, bis in Ewigkeit.“

Mit sich und seinem Richterspruch zufrieden, zog sich Teutates zurück und Sulis begleitete ihren Sohn auf den Weg zur Sonne.
Seitdem wurde dieser Sieg zur Wintersonnenwende ausgiebig von den Menschen gefeiert und wenn die Tage wieder länger werden, dann feiern sie das Ereignis noch heute.

Novembermärchen - Nebelhexe Schattira


Nebelhexe Schattira

Auf der breit gefächerten Treppe des von weißen Wolken umgebenen Luftschlosses, saß ein junges Mädchen. Sein Gesicht barg es in beiden Händen, damit niemand sehen konnte, dass es weinte. Langes, dunkelbraunes Haar fiel über zarte Schultern. Es trug ein fein gewebtes, mit tausend Wasserperlen besticktes Kleid. Kühle Frische umhüllte seine Gestalt.

Drinnen, im Palais, erklang heitere Musik. Das Jahr hatte zum Fest geladen und alle Monate waren gekommen. Nur der November fehlte noch, doch bei diesem fröhlichen Treiben vermisste ihn niemand.
Schattira, das Mädchen, hatte auch eine Einladung erhalten. Als es den Saal betreten wollte, schlug ihm eine feindliche Stimmung entgegen.
„Muss es unbedingt sein, dass du Nebelhexe unsere farbenfrohe Runde mit deinem scheußlichen Grau verunzierst? Hättest du dir wenigsten für diesen Anlass nicht etwas anderes anziehen können? Schau dich nur an, wie du aussiehst. Feucht, kalt und von Grund auf hässlich. Dein Anblick verdirbt mir jede Freude. Verschwinde, so nutzlose Wesen wie du, sind hier nicht willkommen“.
Die boshafte Anfeindung des Monats Mai verletzte das Mädchen zutiefst. Mit gesenktem Haupt verließ es das Gebäude, um sich auf der Treppe nieder zu lassen.
Ohne November war das Jahr unvollständig. Mochte der Mai sagen, was er wollte. Ihm konnte er den Eintritt nicht verwehren. Schattira war fest entschlossen auf den Nachzügler zu warten.
Sie hatte sich sehr auf das Fest gefreut und nun sollte sie ausgeschlossen werden. Im Schmerz versunken fiel ihr gar nicht auf, dass ein älterer Mann sie beobachtete.

„So jung und schon so traurig, das ist nicht gut. Warum gehst du nicht in den Festsaal, singst und tanzt mit den Anderen und erfreust dich deines Seins? Dafür hat das Jahr dich doch eingeladen.“
Schattira schaute erstaunt auf.
Neben ihr stand ein gepflegt aussehender Herr. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der hervorragend zu seinem weißen Haar passte. Dicht wachsende Locken umschmeichelten den sorgfältig frisierten Kopf. Kleine Falten umrandeten freundlich blickende, braune Augen.
„Sind sie der erwartete November?“, fragte die Nebelhexe.
Die warmherzig klingende Stimme des Fremden erweckte Hoffnung bei Schattira.
Als er sich formvollendet vorgestellt hatte, wäre ihm das Mädchen am liebsten um den Hals gefallen.
„Dann gehören wir ja zusammen“. jubelte es.
Der November wollte es zum Portal geleiten, doch die Nebelhexe zögerte.
„Da drinnen werde ich nicht geduldet. Meine Grauschleier lassen angeblich alle leuchtenden Farben verblassen“, sagte sie schamhaft. Außerdem sei ich so hässlich, dass mein Anblick den Gästen jede Freude am Fest nehmen würde.“
„Wer hat das behauptet?“, fragte der November ärgerlich.
„Der Mai“
„Und was sagt unser Gastgeber dazu?“
„Den habe ich nicht gesehen.“
„Er hat dich doch eingeladen – oder?“
Zur Bestätigung der Frage, hielt die Nebelhexe eine gold beschriebene Karte in Händen.
„Hier steht, dass er sich freuen würde, mich begrüßen zu können.“
„Na also. Dann gehen wir jetzt auch ins Schloss hinein. Unglaublich, was sich dieser Grünschnabel erlaubt hat. Glaubt wohl etwas Besseres zu sein, dabei ist er noch nicht einmal trocken hinter den Ohren.“
Doch Schattira war nicht davon überzeugt, im Festsaal gern gesehen zu sein. Wenn sie an die prachtvollen Roben dachte, mit denen sich die Begleiter der Gäste schmückten, kam sie sich schäbig vor und das sagte sie auch dem eleganten Herrn November.
„Oh Mädchen, glaube mir, du bist wunderschön.“
„Das sagen sie nur um mich zu trösten.“
„Schau her, ich beweise es dir.“
Sanfter Wind blies das Kleid der Nebelhexe auseinander, so dass es sich im ganzen Schlossgarten ausbreiten konnte.
„So feines Gewebe steht nur einer Prinzessin zu. Noch dazu sind deine Schleier mit unzähligen Perlen besetzt. Noch nie habe ich ein kostbareres Gewand gesehen.“
„Diese Perlen sind doch nur Wassertropfen, da ist nichts Besonderes dran.“
„Komm mit, ich muss mit dir etwas zeigen.“
Weil Monate überall auf der Welt zu Hause sind, können sie sekundenschnell von einem Kontinent, zum anderen wandeln. Schattira musste all ihre Zauberkräfte einsetzen, um mithalten zu können.
Herr November führte sie nach Südamerika, in die Atacama, die trockenste Wüste der Welt. Bis Regen kommt, vergehen sechs, manchmal sogar bis zu zehn Jahre. Jedoch ist die ganze Gegend von dichten Nebelschleiern durchzogen.
„Hier meine Liebe, wirst du wie eine Göttin verehrt. Ohne dein Tröpfchenkleid, gäbe es an diesem Ort kein Leben. Hör auf zu sagen Wasserperlen wären nicht kostbar.“
„Aber ich sehe doch so grau aus und verschlucke alle Farben“, wandte Schattina schüchtern ein.
„Papperlapapp. Raff deine Schleier zusammen, dann sind sie weiß.“
„Jedoch immer noch nicht bunt.“
„So schnell gibst du wohl nicht auf“, stöhnte Herr November.
„Komm mit. Ich habe versprochen dir zu beweisen, dass du schön bist und was ich gesagt habe, das halte ich auch.“
Sie machten vor einem Gotteshaus halt, wo sich Menschen versammelten, die zu einer Hochzeit eingeladen waren. Brausende Orgelklänge kündigten die Braut an. Jeder wollte ihr Kleid sehen und gebührend bewundern.
„Wer von all den Frauen ist deiner Meinung nach die Schönste?“
„Die Braut“, musste Schattira zugeben.
„Bist du dir ganz sicher? Ich meine, wir hätten da Rosa, Lindgrün und, ach ja, da hinten ist noch eine Dame in Gelb gekleidet.“
„Nein, nein, die Braut in Weiß sticht alle anderen aus.“
„Gut, dass das geklärt ist.“, sagte der November zufrieden.
„Können wir jetzt zum Palast zurück? Es ist unhöflich den Gastgeber warten zu lassen.“

Arm in Arm forderte das kühle Paar Einlass. Dieses Mal erschien der Schlossherr selbst an der Tür. Erleichtert hieß er den November willkommen. Die Nebelhexe begrüßte er sogar mit einem Handkuss.
Das Mädchen war glücklich.
Mit verliebten Blicken schaute es tief in die Augen seines klugen Begleiters. Nie wieder wollte es sich vom November trennen.
Als Beide auf dem Parkett einen mystischen Reigen eröffneten, schlossen sich zur Freude des Jahres auch die anderen elf Monate an.

Oktobermärchen - Magie des Gesangs


Magie des Gesangs

Einst lebte im Schloss, am Rande des Elfenwaldes, die liebliche Prinzessin Serafina. Ihre Mutter, die Königin, war spurlos verschwunden als sie noch in der Wiege lag. Niemand ahnte wo sie sich aufhalten könne und auf weitere Fragen erntete sie nur betretenes Schweigen.
Inzwischen war die Prinzessin zu einer jungen Frau herangewachsen, deren hellblaue Augen wie Saphire funkelten. Ihr schlanker, geschmeidiger Körper, die freundlichen Augen und das herrlich wallende blonde Haar, besonders aber ihr liebliches Wesen lenkten von der Tatsache ab, dass ihr Antlitz von einer riesigen Hakennase verunstaltet wurde.

Ihr Vater, der König, liebte sie von Herzen und tat alles, was in seiner Macht stand, um sie glücklich zu machen. Aber jedes Mal, wenn Serafina nach ihrer Mutter fragt, brach so heftiges Schluchzen aus ihm hervor, dass er nicht mehr reden konnte. Sie wollte ihm kein Herzleid zufügen, deshalb sprach sie ihn nicht mehr daraufhin an. Doch manchmal, wenn sie alleine in ihrem Kämmerlein weilte, verspürte sie eine grenzenlose Sehnsucht nach ihrer Mutter.
Im ganzen Schloss gab es kein Bild, keine Roben, oder andere Hinweise auf eine Königin. Das machte Serafina sehr traurig. Zu gerne hätte sie die Kleider ihrer Mutter anprobiert und deren Duft eingeatmet. Allein, um ihre Nähe zu spüren.

Eines Tages, ihr Vater beriet sich gerade mit seinen Ministern, ging Serafina aus dem Schloss und lief tief in den Wald hinein. Der Legende nach sollen Elfen um den dort gelegenen See herumtanzen, doch keiner hatte sie je gesehen.
Serafina stand an seinem Ufer. Sanft streichelte aufkommender Wind ihre Wangen. Von der zauberhaften Umgebung gefangen, hob die Prinzessin an, ein verträumtes Lied zu singen.
Ihre Stimme war so schön, dass sogar die Vögel des Waldes verstummten, um ihr zuzuhören.
Leichter Nebel stieg vom Wasser empor, der zarte Schemen enthielt, die über der Wasserfläche zu tanzen schienen
Staunend beobachtete Serafina den luftigen Reigen und erkannte jene Elfen, an deren Existenz niemand glauben wollte.
Mit ausgebreiteten Flügeln schwebte eine Elfe zu ihr und sprach:
„Gibt es jemand in Deiner Familie, der Dir ähnlich sieht und dessen Lieder die Seelen der Menschen genauso berühren können?“
„Ja“, rief Serafina erfreut. „Das kann nur meine Mutter sein. Ihr Gesang klingt immer noch in meinem Herzen, obwohl sie mich verlassen hat. Wie sehr sie mir fehlt, kann niemand ermessen.“
„Wir haben eine Königin bei uns aufgenommen, deren Ebenbild Du bist.“
„Kann ich sie sehen?“, fragte Serafina hoffnungsvoll.
„Warte hier, gleich wird sie zu Dir kommen.“
Aufgeregt lief Serafina am Ufer hin und her. Ihr ganzes Leben lang hatte sie auf diesen Augenblick gewartet, doch nun fürchtete sie sich davor.

„Serafina, geliebtes Kind, lass dich umarmen!“, rief eine Dame, die, wie aus dem Nichts heraus, erschienen war. Ihre Gesichtszüge wurden von einer riesigen Nase überschattet.
Serafina eilte auf sie zu und sank, weinend vor Glück, in ihre Arme. Ihnen zuzusehen war so überwältigend, dass die feinfühligen Elfen Freudentänze aufführten.
Serafina hob den Kopf und schaute ihre Mutter vorwurfsvoll an.
Dann stellte sie eine Frage, die so lange auf ihrer Seele lastete:
„Mutter, warum hast du uns verlassen? Vater grämt sich so sehr, dass er alle Andenken an dich aus dem Schloss entfernen ließ. Selten habe ich ihn lachen sehen. Nur, wenn er mit mir zusammen ist, zieht etwas Freude in sein Herz ein. Du hast es entzweigebrochen.“

„Ach mein Kind, du ahnst gar nicht, wie gerne ich ihm liebende Ehefrau und treusorgende Mutter gewesen wäre. Allein, es durfte nicht sein.“
Aufkommende Tränen erstickten ihre Stimme. Nachdem sie sich einigermaßen gefasst hatte, sprach sie weiter:
„Auf mir und meinen Nachkommen liegt ein Fluch.
Alles begann während unserer Hochzeit. Wir hatten ein großes Fest vorbereitet, mit viel Musik und Gesang. Unsere Gäste erschienen in prachtvollen Gewändern, Gold und Silbern erstrahlte der ganze Saal. Selbst die Natur trug ein Festtagskleid, denn an diesem Oktobertag leuchteten die Blätter der Bäume in bunten Farben, die das Herz jeden Menschen mit staunender Freude erfüllte. Auf dem feierlichen Höhepunkt trat plötzlich ein schwarz gekleideter Herr an die Seite meines Mannes, dessen missratenen Gestalt Mitleid hervorrief. Er verbeugte sich elegant und fragte, warum nicht auch er zur Hochzeit geladen worden sei. Mir wurde angst und bange, denn sein faltiges Gesicht verzog sich zu einem unheilvollen Grinsen.
Ich konnte gerade noch hören, wie er zur Strafe mein Antlitz mit einem Nasenbein zieren wolle, das alle Schönheit von mir abfallen ließe. Danach verließ er hoch erhobenen Hauptes, das Schloss.
Alle Gäste waren von diesem Vorfall so schockiert, dass niemand es wagte, ihn aufzuhalten. Verwundert fragte ich meinen Mann wer es wagen könne, so ungebührlich mit seinem Herrn zu sprechen, doch der wich entsetzt vor mir zurück. Auch unsere Gäste schrien auf, als ich mich ihnen zuwandte. Nie zuvor war ich diesem Mann begegnet, und doch hatte sich sein Fluch an mir erfüllt.
Es sollte der schönste Tag meines Lebens werden, doch er endete mit Heulen und Wehklagen.

Zu den dringlichsten Aufgaben eines Herrschers gehört, für männliche Erben zu sorgen. Widerwillig teilte der König sein Lager mit mir. Er erfüllte seine Pflicht, aber ich empfand es als so demütigend, dass ich meinem ärgsten Feind nichts Vergleichbares wünsche.
Als ich endlich ein Kind unterm Herzen trug, verließ ich meine Gemächer nicht mehr. Oft saß ich stundenlang am geöffneten Fenster und sang meinen Schmerz in die Welt hinaus. Pfauen aus dem königlichen Garten gesellten sich zu mir und schlugen ihr Rad, um mich zu trösten. Sie waren meine einzigen Freunde im Schloss.
Wenn die Dienerschaft meinen Gesang vernahm, berührte ich auch deren Herz.
Sie murrten wegen des großen Unrechts, unter dem ich zu leiden hatte. Ihrer Meinung nach müsse das Gesicht des Königs entstellt sein, damit jeder sieht, wie hässlich er seine Frau behandelt. Den Fluch habe nicht ihre Herrin heraufbeschworen, sondern er! Darin waren sich alle einig.
Du wurdest geboren und weil du ein Mädchen bist, starb alle Hoffnung auf den erwarteten Nachfolger. Noch mehr Missachtungen konnte ich einfach nicht ertragen, deshalb ergriff ich die Flucht.“

„Weißt du, wer dieser Unhold war und warum er dir das angetan hat?“, fragte Serafina entsetzt.
„Die Feen haben mir mitgeteilt, dass es sich um den einst geachteten Magier Orthwin handelte. Sie erzählten mir auch, wie es zu der Feindschaft zwischen ihm und dem König kam.
Früher lebte der Zauberer in Eintracht mit des Königs Eltern im Schloss und gehörte zum engsten Freundeskreis am Hofe. Solange er königlicher Berater war, erblühte das Land in Wohlstand und Frieden. Das zog Neider an. Sie scharten sich um den jungen Prinzen und redeten ihm ein, dass es unter seiner Würde sei, sich den verbogenen Rücken des Beraters ansehen zu müssen. Solch Anblick sei eine Beleidigung seiner königlichen Herkunft.
Schlechter Rat fällt leider allzu oft auf fruchtbaren Boden.
Kaum wurde mein Mann gekrönt, verbannte er den armen Orthwin aus dem Schloss.
Nun hat er sich in eine feuchte Meereshöhle zurückgezogen, wo ihm giftige Schlangen und allerlei widerliches Getier, das vom Ozean angeschwemmt wird, Gesellschaft leistet. Seine Welt ist dunkel. Kein Sonnenstrahl durchdringt die schlammige Behausung. Er ist immer alleine. Wer ihm begegnet, erzittert vor Angst und Schrecken.“
„Kann er sich denn nicht von diesem üblen Ort befreien?“
„Schon, aber von der erlebten Ungerechtigkeit verbittert, fühlt er sich nur unter diesen Kreaturen wohl. Die ganze Umgebung ist ein Spiegelbild seiner verletzten Seele.
„Ich werde zu ihm gehen.“, beschloss Serafina.
„Nein! Bitte tu das nicht, er wird dich töten!“, schrie ihre Mutter voller Furcht.
„Du sagst doch selbst, dass er immer alleine ist. Nach all dem, was du über ihn erzählt hast, kann ich mir nicht vorstellen, dass er mir ein Leid antun wird. Vielleicht kann ich seine Trübsal ein wenig lindern.
Doch, wenn ich es recht bedenke, zum Besuch bringt man ein Geschenk mit. Was würde ihm, deiner Meinung nach, Freude bereiten?“
Angestrengt dachten beide nach.
„Mir ist eingefallen, was du ihm schenken könntest!“, sagte die Königin nach einer Weile.
„Ich habe dir doch von den Pfauen erzählt, die mich in meiner Einsamkeit getröstet hatten. Als ich das Schloss endgültig verließ, schenkten mir diese Vögel ihre schönsten Federn, damit mir der Abschied von ihnen nicht so schwer fällt. Von solch kostbarem Gut trenne ich mich nur ungern. Eine Feder will ich dir mitgeben und hoffe, dass sie Orthwin besänftigen kann.“

Der Weg zu den Klippen war weit und beschwerlich. Müde sank die Prinzessin zu Boden, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Hungrig und geschwächt stimmte sie ein wehmütiges Lied an, das von Anmut handelte, die unbedacht zerstört wurde.
Kaum endete ihre Weise, legte ein schwarz gekleideter Herr seine Hand auf ihre Schulter.
Serafina erschrak und sah gütige Augen, die auf sie nieder blickten.
„Ihr müsst erschöpft sein. Darf ich Euch für diese Nacht eine Bleibe anbieten?“
„Verzeiht, aber ich suche einen großen Zauberer, der hier wohnen soll.“
„Den könnt Ihr immer noch aufsuchen, wenn Ihr frisch gestärkt und ausgeruht seid.“
Das Angebot klang so verlockend, dass die Prinzessin nicht vermochte, es abzulehnen. Sie folgte dem Unbekannten in eine unscheinbare Hütte, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatte. Drinnen war es blitzsauber und gemütlich eingerichtet. Nachdem sie Speis und Trank genossen hatte ließ sie sich zu einem Lager geleiten, das mit weißen Linnen bezogen war. Augenblicklich legte sie sich hinein und schlief friedlich ein.
Als sie von Kreischen der Möwen erwachte, stand ein reich gedeckter Tisch in der Mitte des Raumes. Auf einem der Stühle sitzend, wartete der Gastgeber auf ihr Erwachen. Erst jetzt erkannte Serafina seinen krummen Rücken, der ihn zur Missgestalt werden ließ.
„Ihr könnt niemand anders sein, als der Zauberer den ich gesucht habe.“, sagte sie schüchtern. „Warum habt Ihr Euch nicht gleich zu erkennen gegeben?“
„Weil es mir Freude machte Euch zu bewirten. Kommt, setzt Euch zu mir und lasst es Euch munden. Ich habe gleich erkannt, dass Ihr die Tochter der unglücklichen Königin seid. Sagt, was ist Euer begehr?
Verschämt senkte Serafina ihr Haupt
„Meine Mutter wurde von Euch verflucht. Sie fügte niemand ein Leid zu und auch mich trifft Euer Zauber. Habt Erbarmen mit uns, Ihr straft Unschuldige.“

Die offenen Worte der Prinzessin beeindruckten Orthwin sehr. Erst jetzt verstand er, was sein Fluch angerichtet hatte.
Den König wollte er treffen, stattdessen zerstörte er das Leben seiner Gemahlin und ihrer Tochter.
Zögernd ergriff er die Pfauenfeder. Ihre Schönheit erhellte seine Gesichtszüge.
„Ihr seid ein guter Mensch, Prinzessin", hob er an, „liebend gern würde ich Euch helfen, denn ich sehe wohl, Unrecht getan zu haben.
Leider steht es nicht in meiner Macht das Gesetz der Magie zu ändern. Es besagt, dass ein einmal ausgesprochener Fluch, nicht von seinem Urheber zurückgenommen werden kann.
Dennoch will ich Euch raten. Hört, die Befreiung liegt in Eurer eigenen Hand.

„Sagt schnell, was muss ich tun?“, rief Serafina aufgeregt
„Findet einen gesellschaftlich ebenbürtigen Mann, der Euch trotz der mächtigen Nase heiraten will. Das würde den Zauber umkehren. Euer Vater wählte Eure Mutter wegen ihrer vollkommenen Schönheit zur Königin. Weil er mir mein Ansehen nahm, sann ich auf Rache. Sobald Ihr einen hochrangigen Adeligen ehelicht, obwohl Euer Gesicht entstellt ist, heben sich die Kräfte wieder auf und Ihr könnt erstmals Euer wahres Antlitz erblicken.“
Orthwin reichte ihr einen wundersamen Kristallspiegel, dessen Kanten mit geschliffenen Symbolen verziert waren.
„Wenn immer Ihr hineinschaut, wird er wird Euch den richtigen Weg weisen. Mehr vermag ich nicht für Euch zu tun.“, sagte der Zauberer betrübt.

Serafina fühlte sich in ihrem Entschluss bestärkt, das Unheil zu wenden. Freudig singend, wollte sie nach einem geeigneten Partner suchen.
Guten Mutes erreichte die Prinzessin den See im Feenwald.
Die Mutter freute sich sehr, ihre Tochter wohlbehalten vorzufinden. Aber ihre Miene verfinsterte sich sogleich, als sie das einzige Mittel vernahm, welches den Fluch brechen könne.
„Kind, du bist doch noch so jung und hast keine Erfahrung mit Männern. Lass uns bei den Feen bleiben und der restlichen Welt endgültig den Rücken kehren.“, bat sie inbrünstig, doch Serafina protestierte.
„Es ist wohl wahr, ich bin fast noch ein Kind. Kannst du dir vorstellen, was es für mich bedeutet, immer hier verborgen zu leben? Es würde mich vor Kummer verzehren. Ich will Freude haben, singen und tanzen, wie du einst getan. Du wirst mich nicht davon abhalten können!“
Wütend verließ sie den Feenwald.

Die Prinzessin wanderte von Ort zu Ort.
Mitunter erntete sie mitleidige Blicke und die Leute tuschelten hinter ihrem Rücken, wenn sie ihrer gewahr wurden. Sobald das Mädchen aber seine Stimme erhob, gewann es schnell die Herzen seiner Zuhörer. Wie Balsam legten sich ihre Lieder auf verwundete Seelen. Kranke, fanden neuen Lebensmut und Verlassene, wurden getröstet.
Bei der Bevölkerung war es wohl gelitten. Der Ruf einer Heilerin, die Sorgen und Nöte vergessen lässt, eilte ihr voraus.

Den vernahm auch Burggraf von Königswinter. Er litt schrecklich an unerträglicher Schwermut. Die besten Ärzte und Heilkundigen des Landes hatten sich bereits an einer Linderung versucht. Gaukler und Possenspieler tummelten sich zuhauf am Hofe, immer bemüht, ihren Herrn zu erheitern. - Aber alles war bisher erfolglos geblieben.
Als der Burggraf vernahm, dass Serafinas Gesang Herzen heil machen konnte, schöpfte er neue Hoffnung.
Ungeduldig sandte er einen Herold aus, um die Sängerin auf seine Burg zu laden.
Als die Prinzessin davon erfuhr, warf sie erst einen Blick in den Spiegel. Die Symbole funkelten verheißungsvoll, sie würde den rechten Weg nicht verlassen. Bereitwillig nahm sie die Einladung an und betrat ehrfurchtsvoll das prächtige Gemäuer.
Der Graf ging ihr entgegen. Obwohl er schon vorgewarnt worden war, erschrak er dennoch über die riesige Nase, die aus dem Gesicht seines Gastes ragte.
Er fasste sich mit Mühe und sah sich das Mädchen genauer an. Seine Kleidung war staubig und abgetragen, aber ihr Benehmen tadellos und von wohltuender Vornehmheit. Um ihre Herkunft rankten sich Gerüchte. Jedoch hatte niemand in ihr die schmerzlich vermisste Prinzessin vom Elfenwald vermutet.

Als ob die Sonne mit ihren Strahlen dunkle Regenwolken beiseite schöbe, schwand des Burggrafens Bedrückung. Voller Freude bat er Serafina eine Zeit lang bei ihm zu bleiben und ihm Gesellschafterin zu sein. Er wolle sie auch reichlich entlohnen.
„Eines Lohnes bedarf ich nicht, guter Herr", entgegnete das Mädchen, „Ich will gern bleiben und die düsteren Wolken von Eurer Seele vertreiben, trage ich doch selbst eines schweren Schicksals Bürde."
Von nun an wurde die liebliche Prinzessin zum festen Bestandteil des Burglebens. Wie schon in den Orten, die sie durchreist hatte, legte sich der Widerwille gegen ihr verunstaltetes Angesicht recht schnell und bald hatte sie die Herzen Aller gewonnen.
Die Gesichter strahlten, wo immer sie erschien, und der geheilte Burggraf mochte nicht mehr von ihrer Seite weichen.
Als sie eines Abends gemeinsam auf dem großen Balkon standen, von dem aus man weit in das Land blicken konnte, nahm er Serafinas Hand und fiel vor ihr auf die Knie.
„Mein Augenlicht", begann er stockend, „Ich flehe Euch an, werdet meine Frau. Keine Andere als Euch, will ich zur Gemahlin erwählen.“
„Aber meine Nase“, wandte Serafina ein.
„Ach was! Wer sich daran stören will, der mag das tun. Für mich seid Ihr ein Engel, der herabgestiegen ist, um mich aus finsterem Tal zu erlösen.“
Serafina willigte ein und offenbarte das Geheimnis ihrer Abstammung.
Mit Freuden wollte der Graf beim König offiziell um die Hand seiner einzigen Tochter anhalten. Sofort begann er mit den Reisevorbereitungen.

Im Schloss, am Rande des Elfenwaldes, kündigten Posaunenklänge die Ankunft eines wichtigen Besuches an. Gefolgt vom Hofstaat des Burggrafen, leuchteten die Mauern des Palastes, im längst vergangenen Glanz. Unbändiger Jubel kam auf, als der König seine verloren geglaubte Tochter wieder ans Herz drücken konnte. Er hatte im ganzen Lande nach ihr suchen lassen und sie schon für immer verloren gegeben.
Der Antrag des Grafen wurde wohlwollend aufgenommen, die Hochzeitsvorbereitungen konnten beginnen.

Glücklich über die gute Wendung, eilte die Prinzessin zum See im Wald, um ihre Mutter heimzuholen. Die Königin war menschenscheu geworden. Nur Feen konnten sie überreden bei den Feierlichkeiten ihren rechtmäßigen Platz, an der Seite des Königs, wieder einzunehmen.

Die Vermählung fand in der schönsten Kathedrale des Landes statt. Als das Brautpaar sich vor dem Portal küsste, erblickte der Graf Serafinas makelloses Antlitz. Überwältigt hob er beide Arme und rief dem wartenden Volke zu:
„Lobpreiset und frohlocket! Ein Wunder ist heute geschehen und Ihr könnt es bezeugen. Geht in die Welt hinaus und berichtet, welche Gnade Eurer Herrschaft zuteil wurde.
Tosender Beifall brach aus. Die Jahre der Trübsal waren überstanden. Selbst in der kleinsten Hütte erstrahlte das Licht der Zuversicht auf eine bessere Zukunft.

Auch die Königin war fassungslos vor Freude. Sie konnte sie sich nicht satt sehen an dem Spiegelbild, das sich ihr bot. Der König indessen, fiel vor ihr auf die Knie und bat seine Frau um Vergebung. Er habe nicht Recht gehandelt, sie wegen ihres Aussehens zu missachten.
„Erhebt Euch“, meinte sie peinlich berührt. Erst müsst Ihr meine Bedingungen erfüllen, dann wird sich zeigen, ob ich Euch verzeihen kann.
Zerknirscht erkundigte sich der König, welche Bedingungen sie meine.
„Werft Eure schlechten Berater in den Kerker. – Noch heute! Sie haben das Land ausgeraubt und sich die Taschen gefüllt. Ihr Vermögen soll gerecht unter der Bevölkerung verteilt werden. Zudem wünsche ich, dass Ihr den Magier Orthwin wieder in seine ehemaligen Ämter erhebt. Kleidet ihn in Samt und Seide. Wenn er vermag Euch zu vergeben, dann werde ich es auch tun.“

Von diesem denkwürdigen Tag, zehrten noch Generationen. Der kluge Berater Orthwin verhalf der Bevölkerung zu neuem Wohlstand. Das Ansehen des Königspaares wuchs über alle Maßen und als der ersehnte Thronfolger das Licht der Welt erblickte, feierte das ganze Land seine glücklichen Eltern.

Septembermärchen - Im Wunsch gefangen


Amahar, der Urzeitsänger
Udakar, der Schmied
Bodofila, die Maid der Lüfte
Bardaros, im Dienst des Bösen
Idefesom, der Große Geist

Im Wunsch gefang
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In einem fernen Land, hinter den Wellen des großen Meeres, lebten die Menschen einst glücklich und zufrieden. Herb duftende Kräuter wuchsen auf saftigen Wiesen, die für grasende Tiere Leckerbissen waren. Bunte Blumen umsäumten Flussbetten, in deren klarem Wasser muntere Fischlein sich tummelten.
Auf Feldern und Gärten angebaute Pflanzen gediehen prächtig. Auch die Bäume trugen schwer an reifem Obst oder Nüssen. Es war eine Freude, die Geschenke der Natur im September einzusammeln.
Nach der Ernte bedankten sich die Leute bei Idefesom, dem großen Geist, der sie vor allem Ungemach beschützt hatte. Ihm zu Ehren veranstalteten sie ein großes Fest.
Im Gemeindesaal stand eine runde Tafel, die sich unter der Last von aufgetürmten Feldfrüchten bog. Fröhliche Musik erklang und lud zum Tanzen ein.
Voller Missgunst beobachtete Bardaros, wie sich die Leute amüsierten. Er war ausgeschlossen worden. Da er im Dienst des Bösen stand, konnte er keine Dankbarkeit erwarten. Etwas musste geschehen, damit seine Existenz von den Sterblichen angemessen gewürdigt wurde. Mit einer List machte er sich das ausgelassene Treiben zu nutze.

Am nächsten Morgen, als noch alle Menschen friedlich schliefen, flüstere Bardaros ihnen zu, wie schön es doch wäre die Zeit anzuhalten und genüsslich auf dem Lager noch etwas länger liegen zu können. Nach dem arbeitsreichen Jahr hätten sie sich redlich etwas Ruhe verdient. Sie müssten es sich nur wünschen, er würde sich dem gerne annehmen. Eine Bedingung müsse er jedoch stellen:
Jeder, der an Idefesoms Fest teilgenommen hatte, müsse zur gleichen Zeit Bardaros Hilfe erbeten. Wenn nur einer fehle, könne sein Zauber nicht wirken.

Die Sonne ging auf und tauchte den Himmel in sanfte Pastelltöne. Ein Hahn kündigte den beginnenden Tag an. Verschlafen rieben sich die Leute ihre Augen, als sie aus den Häusern traten. An diesem Tag fiel es ihnen besonders schwer, mit der Arbeit anzufangen. Das nächtliche Angebot war zu verlockend gewesen. Auf den Straßen vernahm man aufgeregtes Reden. Jeder dachte an das Gleiche. Sehr schnell waren die Bürger sich einig.
Sie versammelten sich um den runden Tisch, auf dem noch Reste vom vergangenen Fest lagen und fassten sich an den Händen. Der Älteste von ihnen sprach laut vernehmlich:
„Bardaros erhöre unser Flehen. Wir wünschen uns mehr Zeit für die Familie. Ständig haben wir nur gearbeitet. Bitte hilf uns Bardaros.“

Nachdem der Spruch verklungen war, schauten sich die Menschen unsicher an. Nichts geschah. Kein Donnerhall erklang, keine Blitze zuckten aus heiterem Himmel auf die Erde nieder, keine Windböe rüttelte an wackeligen Fensterläden. Alles schien wie immer zu sein. Enttäuscht ging jeder nach Hause.

Edasne, Widakems Ehefrau, wollte Essen kochen, doch sie konnte im Herd kein Feuer entfachen. So sehr sie sich auch bemühte, die Flammen loderten nicht auf.
„Es ist wie verhext. Versuch du es mal, ich gehe derweil in den Stall, Kühe melken.“
Niemand kann sich vorstellen, welch ein Schreck in ihre Glieder fuhr, als sie den Stall betrat. Kein Geräusch war zu hören, die Tiere standen herum, als seien sie aus Gips gefertigt. Sie fraßen kein Heu und tranken nicht. Ihre Euter waren zwar zur Hälfte gefüllt, doch sie ließen sich nicht melken.
Mit dem leeren Eimer in der Hand stürmte Edasne in die Küche.
„Sag mir, von was wir jetzt leben sollen“, fauchte sie Widakem an.
„Es wird schon alles gut, hab nur Geduld. Irgendetwas findet sich immer. Wenn unser Vieh keine Milch mehr gibt, dann essen wir eben Feldfrüchte.“

Auf der Straße wurden immer mehr Stimmen laut. In jedem Haushalt gab es die gleichen Probleme. Alle Menschen versuchten Hilfe beim Nachbarn zu bekommen, aber der war genauso übel dran.
„Bardaros hat uns reingelegt, nur er kann helfen. Wir müssen ihn erneut anrufen“, entschieden die Bürger.
Plötzlich schrie eine Frau aus Leibeskräften. Sie zeigte zum Himmel.
„Die Sonne! Merkt denn keiner, dass sie nicht weiter zieht?“
„Unmöglich, was schwatzt Du da?“, erhielt sie als Antwort.
Doch alle schauten nach oben.
Tatsächlich. Die Sonne stand noch wie am Vormittag.
Hastig eilten alle Menschen in den Festsaal. Wie zuvor rief der Älteste den Zauberer an:
„Bardaros, ich bitte Dich, mache alles wieder rückgängig. Wir wünschen unser Leben wieder so, wie es heute Morgen noch gewesen war.“
Ein lautes Lachen erfüllte den Raum.
„War mein Zauber etwa nicht gut genug? Ihr habt Zeit gewünscht und die habe ich Euch gegeben. Ist es etwa meine Schuld, wenn die Sonne nicht weicht, kein Feuer zündet und …“
Sein grausiges Lachen ließ jeden vor Furcht erzittern.
„Und kein Wasser fließt?
Eure Pflanzen werden vertrocknen, weil auch die Brunnen versiegen. Noch habt ihr etwas zu essen, doch wie lange hält das vor? Ich werde mit Vergnügen zusehen, wie ihr in Euren Betten darbt, bis der Tod Euch erlöst. Und jetzt stört mich nicht mehr, ich habe etwas Besseres zu tun.“
Verzweifelt weinten die Frauen und ihre Männer schauten grimmig drein. Die Lage war aussichtslos. Das hatten sie sich wirklich nicht gewünscht.

Vor langer Zeit war Amahar, der Urzeitsänger im Ort erschienen und berichtete in seinen Weisen vom Schmied Udakar, der mit seinem gleichmäßigen Hämmern bestimme, wie viele Sekunden es brauche, bevor eine Minute verstrichen sei. Er galt als der wahre Zeitmesser, nach dem sich auch die Sonne richten würde.
Edasne hatte ihm aufmerksam zugehört, währenddessen die Leute ihn fortjagten und als Tunichtgut beschimpften, der sie nur von ihrer Arbeit abhalten wolle.
„Erinnert ihr euch noch, wie schändlich ihr ihn behandelt habt? Dabei sang er wundervolle Lieder.“
Die Angesprochenen sahen betroffen zu Boden und schämten sich für ihre damalige Tat.
„Wo finden wir diesen meisterhaften Schmied und wie können wir mit ihm Kontakt aufnehmen?“, wurde Edasne von allen Seiten her gefragt.
„Eigentlich gar nicht“, bedauerte sie.
„Er lebt in den Wolken und ist für Menschen unerreichbar.“
„Dann rufen wir seinen Namen. Wenn er uns hört wird er wissen wollen, was er für uns tun kann.“
„Das ist keine gute Idee. Dort wo er arbeitet ist es so laut, dass er sogar tosenden Sturm nicht wahrnehmen kann. Zuvor müsste er aufhören zu schlagen. Das wird er aber gewiss nicht tun, denn es ist seine Bestimmung.“
„Warum erzählst du dann von ihm, wenn wir doch nichts tun können? Macht es Dir Freude uns noch mehr zu quälen?“, schnauzten die Leute Edasne an.
„Niemand will Euch quälen, ausgenommen Bardaros. Denkt doch mal nach. Wenn wir auf Wolken keinen Halt finden, kann das doch Bodofila, die Maid der Lüfte für uns tun.“
Erstaunt sah einer den anderen an. Hätten sie damals nur Amahar, dem Urzeitsänger, besser
zugehört. Der Name Bodofila war ihnen unbekannt.
„Was ist, wenn wir damals Recht hatten und nichts von all dem stimmt?“
„Den Versuch, Bodofila anzurufen, wird es wohl wert sein. Oder hat jemand einen anderen Vorschlag?“
Auffordernd sah sich Edasne um. Keiner meldete sich zu Wort.
„Gut, dann lasst mich jetzt alleine. Ich werde mit der Maid sprechen und will niemand in meiner Nähe sehen. Bodofila ist nämlich sehr schüchtern und wenn sie sich bedrängt fühlt, dann kann sie ausgesprochen böse werden.
Glaubt mir, ist sie erst einmal richtig wütend geworden, dann lässt sie kein Haus unbeschadet stehen und knickt Bäume um, als seien sie Strohhalme.“

In der Nähe des Flusses setzte sich Edasne auf einen Stein. Dass es an ihrem Lieblingsplatz so traurig aussehen würde, hatte sie nicht erwartet. In dem wenigen verbliebenen Wasser lagen die Fische wie Kieselsteine auf dem Grund.
Mit Hilfe einer Zauberformel, die Edasne vom Urzeitsänger gelernt hatte, rief sie Bodofila herbei. Wenig später saß eine wunderschöne Frau mit langen blonden Haaren neben ihr.
„Warum hast du mich gerufen Menschenkind?“, wollte sie wissen.
Edasnes Augen waren voller Tränen.
„Sieh doch nur, die Fischlein. Alles Leben ist aus ihrem Körper gewichen.“
„Was ist geschehen?“, fragte Bodofila entsetzt.
„Das ist alles meine Schuld. Bardaros hat versprochen, dass ich mit meinem Mann länger als üblich im Bett liegen bleiben kann, ich habe es mir doch so sehr gewünscht. Aber dass er die Zeit anhält, Verderben über uns alle bringt und sogar diese unschuldigen Lebewesen erstarren lässt, das habe ich nicht gewollt.“
Bodofila sah Edasne schräg von der Seite an.
„Hast du alleine Bardaros angerufen?“
„Nein, wir alle waren es. Aber ich hätte von Amahar, dem Urzeitsänger wissen müssen, wie abgrundtief schlecht der Diener des Bösen ist. Deshalb trage ich alleine die Schuld an allem.“
Edasne weinte bitterlich.

Bodofila überlegte nicht lange.
„Mit Bardaros habe ich sowieso noch eine Rechnung zu begleichen, da kommt mir dieser Zwischenfall ganz gelegen. Vertraue mir, ihm werde ich das Handwerk legen.“
Bodofilas strahlendes Lächeln erwärmte Edasnes Herz.
Die Maid der Lüfte eilte zu ihrem Freund Udakar. Sie erzählte dem Schmied, Bardaros habe es geschafft, sein Hämmern in einem Dorf unwirksam zu machen.
„Was? Meine schwere Arbeit soll nutzlos sein? Na dem werd’ ich’s zeigen!“, schnauzte Udakar wütend. Er heizte das Feuer doppelt so stark an und schlug auf glühendes Eisen bis Funken sprühten.
Auf der Erde tobte ein Gewitter, dass die Sterblichen in Angst und Schrecken versetzte. Nur in der verzauberten Gegend bemerkt niemand etwas davon. Nichts trübte den strahlend blauen Himmel.
Die Maid der Lüfte schwebte übers Wasser, sammelte alle Wolkenberge ein und blies sie vors Angesicht der Sonne.
„He Bodofila, was machst du da, so kann ich doch keine Menschen mehr sehen.“
„Wenn du sie beobachten willst, dann rücke doch einfach zur Seite. Du hast schon viel zu lange hoch am Himmel gestanden. Hörst Du nicht, wie ungeduldig Udakar die Stunden schlägt?“
„Eigentlich hast Du Recht. Außerdem langweilt es mich, immer das Gleiche zu sehen. Sollen dicken Regenwolken ruhig meinen Platz einnehmen, ich bin müde geworden“, antwortete der Himmelskörper.
Vor Freude jauchzte Bodofila. Wenn die Sonne bereit war unter zu gehen, dann würde auch die Zeit aus ihrem Schlaf erwachen.

Als Bardaros merkte, dass sein Zauber wirkungslos geworden war, lief er vor Zorn rot an, wurde dicker und dicker, bis er zu feinem Staub zerplatzte.
Bodofila blies die Überreste auseinander und verteilte sie über die ganze Welt. Seitdem ist das Böse in jedem Land zu Hause. Doch nie wieder findet es zu seiner ehemaligen Stärke zurück.