Donnerstag, 14. April 2011

Märzmärchen - Bruderzwist


Im Wald herrschte Eiseskälte. Zierliche Elfen schwebten bibbernd im Dickicht des Waldes umher. Ihre zarten Flügel waren vor Kälte ganz steif geworden, sodass ihnen das Fliegen schwer fiel.
„Wo bleibt der Frühling nur?“, fragten sie einander ungeduldig.
Sie trugen hauchdünne Kleidchen, die im Winter keinen Schutz gegen den grimmigen Frost boten. Alle Elfen sehnten den Frühling herbei - wie schön ist es, wenn zartes Grün durch feuchten Boden stößt, die ersten Blumen sich entfalten und Sonnenstrahlen graue Wolkengebirge durchbrechen. Auch ihr Dasein wird dann leichter und fröhlicher.
So sehr sich die kleinen Wesen auch umschauten, nur Schneeglöckchen und Gelblinge kündigten an, dass im Jahresbuch schon März stand.
Bäume stöhnten bereits. Auf ihren Ästen lag immer noch Schnee, es war viel zu kalt, sich mit aufbrechendem Grün zu bekleiden.

„Mir reicht’s, ich werde den Winter besuchen und ihn fragen, wann er sich endlich zurückzieht!“, kündigte Ranja an. Sie war die mutigste der Elfen.
„Pass bloß auf, dass er dir nichts antut“, warnten ihre Schwestern ängstlich.
Doch Ranja hielt an ihrem Entschluss fest.
Auf dem Weg zum Winter verließ sie jedoch der Mut, und es stiegen Zweifel in ihr auf. Noch nie hatte sie ihm gegenüber gestanden. Wie würde er sie empfangen? Tausend Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum. Um die Furcht zu vertreiben, pfiff Ranja laut vor sich hin.

Plötzlich schreckte sie auf.
„Wer stört?“, schallte es bedrohlich in ihren Ohren.
Vor ihr stand ein älterer Mann, eingehüllt in dicke Winterkleidung. Eine fellbesetzte Kapuze war tief ins Gesicht gezogen. Eiskristalle zierten buschige Augenbrauen und den bis zum Knie reichenden Kinnbart.
Am liebsten hätte sich Ranja unsichtbar gemacht.
„Ich bin’s, Ranja, und suche den Winter.“
„Hast ihn gefunden, was willst du von mir?“, fragte der Winter barsch.
„Ich möchte Euch etwas fragen.“
„Blödsinn, von mir will keiner was wissen. Los, raus mit der Sprache. Warum bist du hier? Bestimmt willst du mich vertreiben, aber das lass ich nicht zu. - Noch nicht!“
Eisiger Hauch ließ Ranjas Flügel erstarren. Beinahe wären sie zerbrochen. Die Elfe bekam Angst.
„Haltet ein! Ich bitte Euch. Denkt doch mal nach, wie könnte ein schwaches Wesen, wie ich, Euch vertreiben?“
„Hm. – Hast Recht, das geht nicht. Also, warum hast du mich gesucht?“, die Stimme war etwas freundlicher geworden.
„Ich wollte Euch fragen, wann Ihr das Wetter dem Frühling überlasst.“
„Hatte ich doch gleich Recht! Du gehörst auch zu denen, die mich nicht früh genug loswerden, aber noch kann ich mich wehren!“
Der Winter warf Eiszapfen nach Ranja, doch sie wich den Geschossen geschickt aus.
„Ich möchte doch nur mit Euch reden, was ist daran so schlimm?“
„Du bist böse.“
„Bin ich nicht.“
„Bist du doch.“
„Nein.“
„Du hasst mich.“
„Wieso sollte ich das tun?“
„Weil ich kalt bin.“
„Aber das ist doch gut so.“
Diese Antwort hatte der Winter nicht erwartet. Sie machte ihn neugierig.
„Meinst du das wirklich?“
„Elfen lügen nicht.“
„Warum hast du dann nach dem Frühling gefragt?“
„Können wir in Ruhe darüber reden?“
„Nur, wenn du aufhörst, ständig um mich herumzuflattern.“
„Lasst erst Eure Eiszapfen fallen.“
Mit einem Lächeln legte er seine Waffen nieder.
„Hab dir ganz schön Angst gemacht, stimmt’s?“
Außer Puste geraten, setzte sich Ranja auf einen Stein.
„So schnell bin ich in meinem ganzen Leben noch nicht geflogen“.
„Selber schuld, was fragst du auch nach dem Frühling? Er ist mein ärgster Feind.“
„Wieso denn? Ich dachte, er wäre Euer Bruder.“
„Ist er auch. Jeder freut sich auf ihn und kann es nicht erwarten, bis er mich besiegt hat. So etwas verbittert, ich kann ihn nicht leiden.“
„Habt ihr vergessen, wie sehnsüchtig nach dem ersten Schnee Ausschau gehalten wird? Liebevoll deckt ihr die Erde mit einer weißen Decke zu. Unter ihrem Schutz können die Pflanzen ruhen und neue Kräfte sammeln.
Außerdem feiern Menschen ihr schönstes Fest im Winter. So wichtig und wertvoll seid Ihr. Doch nach einer bestimmten Zeit müsst Ihr das Wetter dem Frühling überlassen. Der wird dem Sommer weichen, und dieser wiederum übergibt das Regiment dem Herbst. So und nur so funktioniert Mutter Natur.“
„Du meinst, ich muss nicht eifersüchtig sein?“
„Ganz und gar nicht. Alle Jahreszeiten haben ihre Berechtigung. Jede nimmt und gibt gleichermaßen, keine kommt zu kurz.“
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“
„Versöhnt Euch mit Eurem Bruder und lasst die Streitereien, sie führen zu nichts.“
„Jedes Jahr vertreibt mich der Frühling aufs Neue. Immer bin ich ihm unterlegen, deshalb wird es keinen Frieden zwischen uns geben.“
Ranja sah ein, dass dieser Konflikt tiefere Ursachen hatte. Nur durch Einsicht des Winters konnten sie gelöst werden. Sie fühlte sich hilflos und das machte sie sehr zornig.
„Frühling, Sommer, Herbst und Winter helfen beim Wachsen und Gedeihen der Pflanzen. Jede Jahreszeit wird gleichermaßen gebraucht. Eure Aufgabe ist es, der Natur eine Verschnaufpause zu schenken und die endet mit dem Erscheinen Eures Bruders. Ich warne Euch, es gibt es auf der Erde Länder, die kennen gar keinen Winter, und trotzdem erblüht reichhaltig das Leben. Passt gut auf, wenn Ihr so weiter macht, dann werdet Ihr einfach weggelassen.“
Noch verschlafen erschien der Frühling und rieb seine Augen. Er war zwar noch klein und trug einen spärlich bestickten Anzug, aber die von ihm ausströmende frische Kraft überzeugte auch so.
„Was ist los? Weshalb streitet ihr euch?“, wollte er wissen. An Ranja richtete er die Frage:
„Was hast du hier zu suchen?“
„Aber ich…doch nur…“, vor Überraschung bekam sie kaum ein Wort heraus.
Schützend stellte sich der junge Frühling vor den schwach gewordenen alten Winter. Der konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, deshalb wurde er von seinem Bruder unter den Armen gestützt.
„Ruh dich ruhig aus. Ich denke, deine Zeit ist nun um“, sagte der Frühling beruhigend.
Warmer Wind begleitete ihn.
Ranjas Flügel tauten auf und gewannen ihre ursprüngliche Beweglichkeit wieder.
Fassungslos bemerkte die Elfe, wie ihr Besuch missverstanden wurde.
„Ihr tut mir unrecht. Ich wollte Eurem Bruder nichts Böses antun. Dass er sich jetzt so schlecht fühlt, liegt an Eurer ausstrahlenden Wärme. Gern hätte ich gesehen, dass er nicht leiden muss und sich würdevoll verabschieden kann. Nur deshalb habe ich ihn aufgesucht, etwas anderes hatte ich nicht vor.“

„Sag kleine Elfe, würdest du mich auch mal im Dezember besuchen? Dann bin ich jung und kräftig und wir könnten uns bunt strahlende Lichterketten ansehen. Es war schön, dich kennenzulernen. Als Einzig hältst du noch zu mir. Das zu wissen erleichtert mir den Abschied.“, sagte der Winter mit letzter Kraft.
Seine Stimme wurde leiser, doch in den Augen lag ein Hoffnungsschimmer.
„Gern“, rief Ranja. „Ich denke, dass wir richtig gute Freunde werden.“
Lächelnd winkte sie dem scheidenden alten Mann zu.

„Was sind schon bunte Lichterketten gegen das Aufblühen prächtiger Blumen?“, fragte der Frühling erstaunt.
„Weil es im Winter an Farben fehlt, schmücken die Menschen ihr Fest mit leuchtenden Lampen. Das sieht zwar toll aus, ist aber nur künstlicher Schein.“, bekam er als Antwort.
„Ihr dagegen verkörpert neues Leben. Aber das könnt Ihr nur, weil der Winter zuvor Ruhe und Erholung auf Erden bringt. Ohne ihn, würden wir Eure Zeit nicht schätzen.
Schaut nur, da kommen die Tiere. Sie haben mächtigen Hunger. Ihr habt viel zu tun, bis alle wieder satt werden können und da möchte ich Euch nicht länger aufhalten. Ich wünsche Euch viel Freude an der Aufgabe.“
„Wirst du mich auch besuchen?“
„Wenn es Euch Recht ist, dann hätte ich am ersten Mai Zeit. Nun muss ich aber los, meine Schwestern erwarten mich.“

Erleichtert flog sie nach Hause, ihre Mission war beendet. Unterwegs begrüßten sie die aufblühenden Krokusse und Weidenkätzchen winkten ihr freudig zu.

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