Mittwoch, 13. April 2011

Januarmärchen - Eisprinzessin Einar


Eisprinzessin Einar

Es dämmerte bereits. als ein dreizehnjähriges Mädchen alleine durch den Stadtpark ging und seinen Lieblingsplatz anstrebte. Auf einer Bank, die direkt am Teich stand, ließ es sich seufzend nieder. Tief in Gedanken versunken bemerkte es nicht, wie die beißende Kälte Besitz von seinem zarten Körper ergriff. Hauchdünne Schneeflocken rieselten auf die Kleidung herab und bedeckten sie bald mit einer weißen Schicht. Nichts von dem schien es zu bemerken. Das Kind saß bewegungslos da. Der Schmerz legte sich wie ein eisernes Band um sein kleines Herz und drohte es zu zerdrücken. Tränen brachen hervor und liefen die Wangen herab. Plötzlich sprang es auf. Ja, das wollte es tun. Ins Wasser gehen und sterben. Eine andere Lösung gab es nicht.

Langsam hob es einen Fuß nach dem anderen, um in die Fluten einzutauchen. Gleich musste kaltes Wasser in seine Stiefel eindringen, doch nichts geschah. Eisschollen bildeten sich genau dort, wo es den Fuß aufsetzte. Noch traute das Mädchen dem Wunder nicht und rechnete damit jeden Augenblick einzubrechen. Da es aber sowieso vorhatte zu versinken, ging es weiter, bis fast die Mitte des kleinen Sees erreicht war. Übers Wasser gehen zu können machte ihm so viel Spaß, dass es darüber seinen Kummer vergaß. Rechts und links von ihm schnatterten aufgeregte Enten, die im eisfreien Wasser schwammen. Den Tieren war das merkwürdige Menschenkind unheimlich.

„Wenn du nicht bald nach Hause gehst, ist der ganze Teich zugefroren“.
Eine freundliche Stimme riss das Kind aus seiner Freude über das ungewöhnliche Schauspiel heraus. Neugierig sah es sich um. Neben ihm stand eine bildschöne junge Frau. Sie trug keine Winterkleidung, sondern nur ein feines Kleid, das mit weißen Sternen bestickt war. Lange, dunkle Haare fielen über ihre Schultern und auf dem Haupt glänzte eine Krone aus geschwungenen Eiszapfen. Dieses Wesen war so zart, dass es fast durchsichtig zu sein schien.
Bist du eine Fee?“, fragte das Mädchen erstaunt.
„Nicht ganz, ich bin die Eisprinzessin“, antwortete sie lächelnd.
„Entschuldigung Eure Hoheit, dass ich Euch nicht erkannt habe“.
„Wenn du willst kannst du mich Einar nennen. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Ich bin die Klara“
Zweifelnd fügte das Mädchen hinzu.
„Erlebe ich das wirklich, oder ist alles nur ein Traum? Eine richtige Eisprinzessin gibt es doch gar nicht“.
„Achte auf deine Worte Klara. Wenn es mich nicht gäbe, dann würdest du jetzt auf dem Grund des Sees liegen“.
Klara senkte den Kopf.
„Aber ich wollte doch wirklich sterben Einar, warum hast du es nicht zugelassen? Noch einmal schaffe ich es nicht. Bis ich zu diesem Schritt bereit war, kostete es mich große Überwindung“.
„Du bist so jung, dein Leben wird dir noch viel Schönes schenken. Sich zu töten ist immer der falsche Weg. Egal aus welchem Grund du ihn wählst.
Hast du Mal an deine Eltern gedacht? Ist dir klar, was du ihnen antun würdest? Sie lieben dich, was empfindet du für sie?“
„Papa und Mama habe ich sehr lieb. Bei Jens ist das doch etwas ganz anderes. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben. Doch jetzt hat er eine Andere geküsst“.
„Ach so – du hast Liebeskummer. In deinem Alter, das erklärt einiges. Selbst Erwachsene können damit nur schwer umgehen. Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen“.

Prinzessin Einar gab ein Zeichen.
Zwei weiße Pferde erschienen, die einen Schlitten zogen.
Als beide im Schlitten Platz genommen hatten, erhoben sie sich in den Himmel. Langsam wurden Konturen eines Schlosses sichtbar, dessen Mauern aus glatt polierten Eisblöcken bestanden. Noch fiel etwas Licht auf das Gebäude und brach sich in allen erdenklichen Farben.
„Das ist mein Heim. Nicht einfach nur weiß, wie Märchenbücher die Kinder glauben lassen möchte, sondern…, ach, das kannst du ja selbst sehen, sei willkommen“.
Klara war überwältigt von der leuchtenden Vielfalt. Zögernd folgte sie ihrer Gastgeberin ins Innere hinein. Auch dort kam sie aus dem Staunen nicht heraus. Alles war so unwirklich, kein Kratzer spiegelte sich an den Wänden. Ihr wurde schwindlig, weil sie keinen Anhaltspunkt fand um sich zu orientieren.
Einar ergriff ihre Hand und sagte:
„Ich möchte, dass du dir genau ansiehst, was in der Vergangenheit geschah“.

Vor einer Wand erschien plötzlich der Ort, in dem Klara zu Hause war. Als würde sie den Straßen entlang schlendern, entdeckte sie Meike neben sich gehen. Sie war eine Klassenkameradin, die Klara noch nie leiden konnte. Zielstrebig ging Meike auf das Haus zu, in dem Jens wohnte. Vor der Eingangstür zupfte das Mädchen ein letztes Mal an seiner Kleidung. Es war alles in Ordnung, auch die Frisur saß perfekt. Verführerisch stellte es sich in Position und drückte auf den Klingelknopf.
Jens öffnete.
Sichtbar enttäuscht Meike vorzufinden, fuhr er sie mit barschem Ton an:
„Was willst du denn schon wieder?“
Das klang nicht gerade nach einem Willkommensgruß.
Davon unbeeindruckt fiel Meike ihm um den Hals und küsste ihn zärtlich. Jens war so perplex, dass er sich nicht wehrte.
Genau in diesem Moment entdeckte Klara die beiden. Als ob ein glühendes Schwert ihr Herz durchbohren würde, rannte sie vor diesem Anblick davon. Deshalb konnte sie auch nicht hören, wie Jens kurz darauf Meike beschimpfte. Gedemütigt schlich sie sich weinend nach Hause.
Das Bild verschwand und die Wand wurde wieder weiß.

Klara war erleichtert.
„Das hat Jens wirklich gesagt? Oder machst du mir nur etwas vor, damit ich nicht gleich wieder auf dumme Gedanken komme?“
„Dumme Gedanken sind genau die richtigen Worte. Es zeigt, dass ich mir keine Sorgen mehr um dich machen muss.
An der Vergangenheit kann ich nichts ändern, sie ist abgeschlossen. Alles geschah genauso, wie du es gesehen hast.“, antwortete Einar.
„Warum hast du dann diese Wand, wozu soll sie gut sein?“
Einar drehte Klaras Kopf leicht herum.
Plötzlich erschien ihr schimpfender Vater.
„Wo bleibt das Mädchen nur, es wird schon dunkel. Klara sollte schon längst da sein“.
„Um sich Sorgen zu machen ist es noch viel zu früh“, beruhigte die Mutter ihren Mann.
„Immer hältst du zu ihr. Ich habe in diesem Haus gar nichts mehr zu sagen!“,
wütend schlug der Vater die Küchentür zu.

„Das ist die Gegenwart. Hier kann ich nur eingreifen, wenn kein anderer Mensch mich sieht. So wie ich es bei dir getan habe. Hätte ich dich ins Wasser gehen lassen, wäre das Leben deiner Eltern auch zerstört gewesen. Sie würden diesen Schock nicht überwinden und sich immer Vorwürfe machen. Eine ganze Familie wäre ins Unglück gestoßen worden, bloß weil du einen Teil der Wirklichkeit nicht mitbekommen hast“.
„Kannst du auch in die Zukunft sehen?“
„Nein, die Zukunft bleibt sogar mir verborgen und das ist gut so. Jetzt wird es aber Zeit, dass du nach Hause kommst“.

Einar setzte das Mädchen vor derselben Bank ab, bei der es ihr aufgefallen war.
Kaum war Klara aus dem Schlitten gestiegen, wurde ihr kalt und sie lief eilig heim.
Ihr Vater drückte seine Kleine ganz fest an sich und ihre Mutter fragte, einen triumphierendem Blick auf ihren Mann gerichtet;
„Es ist ziemlich spät geworden, sag Mal, wo hast du eigentlich gesteckt?“
„Die ganze Zeit war ich bei Einar. Sie hat gut auf mich aufgepasst, damit mir nichts passiert und ich habe viel bei ihr gelernt.
„Wer ist Einar und woher kennst du sie?“.
„Ach Mama, ich würde es dir so gerne erzählen, aber das glaubt mir kein Mensch – nicht einmal du“.

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