Mittwoch, 24. Oktober 2012



Rotkäppchen und der hungrige Wolf

Es war einmal, da eilte ein junges Mädchen durch den Wald zu einer Hütte, in der seine Oma lebte. In Händen hielt das Kind einen Korb aus dem es verlockend nach Gesottenem und Gebratenem duftete. Jeden Tag machte es sich auf den Weg, um die alte Frau mit Mahlzeiten zu versorgen. Bei ihm zu Hause wurde Großmutter nicht mehr geduldet da sie unter Gedächtnisschwund litt, was zu ständigen Zerwürfnissen mit ihrem Sohn führte. Das kleine Mädchen liebte seine Oma sehr und verbrachte fast jede freie Minute mit ihr. Gern half es ihr sich zu erinnern und lauschte geduldig den Erzählungen der Alten. Beide lachten herzhaft miteinander und musizierten, dass es eine Freude war ihnen zuzuhören.
Als der Winter kam, machte sich seine Mutter große Sorgen, denn  der Weg wurde immer beschwerlicher. Doch alles Bitten und Zureden bei ihrem Mann half nichts. So lange Oma sich nicht an bestimmte Dinge erinnern würde, musste sie im Walde leben. Verbannt von der Familie, weit fort von ihrem Sohn.
Aus diesem Grunde lief das Mädchen auch bei tiefem Schneegestöber zu seiner Oma, die Töpfe gefüllt mit leckerem Essen. Bei allen Wegen setzte es sich ein rotes Käppchen auf, das wärmte und weithin sichtbar war. Dies stand ihm so gut, dass es von jedermann nur noch Rotkäppchen genannt wurde.
Eines Tages, Rotkäppchen war gerade bei Großmutter angekommen, klopfte es stürmisch an der Tür des Häuschens. Verwundert öffnete das Kind, doch noch mehr staunte es als ein prachtvoller Wolf um Einlass bat. Er habe großen Hunger gestand er und würde zu gerne mit den beiden Frauen speisen, es solle auch ihr Schaden nicht sein.
Großmutter wollte den Wunsch des Tieres sogleich gewähren, doch ihre Enkelin erhob Einwände. Zuerst müsse der Wolf zeigen, dass er sich gesittet benehmen könne, dann würde er an ihrem Tisch willkommen sein. Dazu gehören unter anderem auch, sich die Pfoten zu waschen, auf dass jede Kralle blitzblank glänzte.
Der Wolf wurde ungehalten ob den strengen Bedingungen Rotkäppchens, die er kaum erfüllen konnte. Ließ sie ihn aber am Essen schnuppern, dann fügte er sich ergeben und gab sich die größte Mühe. Siehe da, das Unmögliche geschah, bald saßen sie zu dritt am Tisch und ließen es sich munden. Kaum waren alle satt geworden, erhob sich der Wolf, dankte artig und erinnerte an sein zuvor gegebenes Versprechen.
Weil beide Frauen den Tisch mit ihm geteilt hatten und der Mär vom bösen Wolf keinen Glauben schenkten, wolle er sich erkenntlich zeigen und Großmutter von ihrem Gedächtnisverlust befreien. Nur so könne sie wieder als wissende Magierin zu ihrer ursprünglichen Bestimmung finden und Märchen mit der realen Welt von Menschen vereinen. Nur eine weise Frau wie sie sei fähig, Träume in denen alles möglich war, bei erwachsenen Menschen wieder aufleben zu lassen. Ein Fluch habe sie einst getroffen von dem sie nur erlöst werden konnte, wenn ein wildes Tier bei ihr Aufnahme finden würde. Dies sei nun geschehen und deshalb wünsche er ihr gutes Gelingen in der Zukunft.  
Rotkäppchens Oma wusste, dass eine große Verantwortung auf ihr lag und war bereit diese Bürde auf sich zu nehmen.
„Und du mein lieber Wolf, was ist dein Begehr?“, wollte sie wissen.
„ Ach nichts weiter“, druckste er herum. „ Es ist nur so, dass ich mich unsterblich in eure Enkelin verliebt habe.“
„Nanu, obwohl sie von euch so unnachgiebig auf menschliches Benehmen bestand?“
„Sie war stur, mutig, selbstbewusst, verlässlich und liebevoll euch gegenüber. Ich bewundere sie, eine bessere Partnerin vermag ich nicht zu finden. Bitte erlaubt, dass ich um ihre Hand anhalte.
Großmutter hätte eine Vermählung zwischen dem Wolf und Rotkäppchen gern gesehen, doch dazu war das Mädchen noch viel zu jung. Außerdem hatten ihre Eltern in dieser Angelegenheit auch noch ein Wörtchen mitzureden. Deshalb beschränkte sich die Magierin  darauf, den ungewöhnlichen Freier in menschlichen Gebräuchen zu unterweisen und falls nötig auch zu verwandeln.

Rotkäppchen war zu einer lebenslustigen jungen Frau herangewachsen, die viele Blicke auf sich zog. Ein junger Mann erregte besonders ihre Aufmerksamkeit. Er sah blendend aus, war gebildet, strahlte vornehme Zurückhaltung aus und schien wohlhabend zu sein. Doch das war es nicht, was sie an ihn so faszinierte. Sah sie in seine Augen, dann kribbelte es an ihrem ganzen Körper bis in die Fußspitzen hinein. Kein Anderer übte solch eine Wirkung auf sie aus, es war einfach unvergleichlich. Das Mädchen beschloss den Blicken des wundersamen Mannes stand zu halten. Sah es darin die urwüchsige Kraft eines verliebten Wolfes, oder den Zauber ihrer Jugend, keiner vermochte es zu sagen. Jedenfalls konnte sie sich kaum von ihm lösen. Ergeben sank sie in seine starken Arme, die ihr Schutz und Anerkennung verhießen. Ja, sie wollte ihn heiraten und da ihre Eltern keine Einwände erhoben, wurde die Ehe sowohl im Himmel, als auch in der Märchenwelt geschlossen.