Mittwoch, 24. Oktober 2012



Rotkäppchen und der hungrige Wolf

Es war einmal, da eilte ein junges Mädchen durch den Wald zu einer Hütte, in der seine Oma lebte. In Händen hielt das Kind einen Korb aus dem es verlockend nach Gesottenem und Gebratenem duftete. Jeden Tag machte es sich auf den Weg, um die alte Frau mit Mahlzeiten zu versorgen. Bei ihm zu Hause wurde Großmutter nicht mehr geduldet da sie unter Gedächtnisschwund litt, was zu ständigen Zerwürfnissen mit ihrem Sohn führte. Das kleine Mädchen liebte seine Oma sehr und verbrachte fast jede freie Minute mit ihr. Gern half es ihr sich zu erinnern und lauschte geduldig den Erzählungen der Alten. Beide lachten herzhaft miteinander und musizierten, dass es eine Freude war ihnen zuzuhören.
Als der Winter kam, machte sich seine Mutter große Sorgen, denn  der Weg wurde immer beschwerlicher. Doch alles Bitten und Zureden bei ihrem Mann half nichts. So lange Oma sich nicht an bestimmte Dinge erinnern würde, musste sie im Walde leben. Verbannt von der Familie, weit fort von ihrem Sohn.
Aus diesem Grunde lief das Mädchen auch bei tiefem Schneegestöber zu seiner Oma, die Töpfe gefüllt mit leckerem Essen. Bei allen Wegen setzte es sich ein rotes Käppchen auf, das wärmte und weithin sichtbar war. Dies stand ihm so gut, dass es von jedermann nur noch Rotkäppchen genannt wurde.
Eines Tages, Rotkäppchen war gerade bei Großmutter angekommen, klopfte es stürmisch an der Tür des Häuschens. Verwundert öffnete das Kind, doch noch mehr staunte es als ein prachtvoller Wolf um Einlass bat. Er habe großen Hunger gestand er und würde zu gerne mit den beiden Frauen speisen, es solle auch ihr Schaden nicht sein.
Großmutter wollte den Wunsch des Tieres sogleich gewähren, doch ihre Enkelin erhob Einwände. Zuerst müsse der Wolf zeigen, dass er sich gesittet benehmen könne, dann würde er an ihrem Tisch willkommen sein. Dazu gehören unter anderem auch, sich die Pfoten zu waschen, auf dass jede Kralle blitzblank glänzte.
Der Wolf wurde ungehalten ob den strengen Bedingungen Rotkäppchens, die er kaum erfüllen konnte. Ließ sie ihn aber am Essen schnuppern, dann fügte er sich ergeben und gab sich die größte Mühe. Siehe da, das Unmögliche geschah, bald saßen sie zu dritt am Tisch und ließen es sich munden. Kaum waren alle satt geworden, erhob sich der Wolf, dankte artig und erinnerte an sein zuvor gegebenes Versprechen.
Weil beide Frauen den Tisch mit ihm geteilt hatten und der Mär vom bösen Wolf keinen Glauben schenkten, wolle er sich erkenntlich zeigen und Großmutter von ihrem Gedächtnisverlust befreien. Nur so könne sie wieder als wissende Magierin zu ihrer ursprünglichen Bestimmung finden und Märchen mit der realen Welt von Menschen vereinen. Nur eine weise Frau wie sie sei fähig, Träume in denen alles möglich war, bei erwachsenen Menschen wieder aufleben zu lassen. Ein Fluch habe sie einst getroffen von dem sie nur erlöst werden konnte, wenn ein wildes Tier bei ihr Aufnahme finden würde. Dies sei nun geschehen und deshalb wünsche er ihr gutes Gelingen in der Zukunft.  
Rotkäppchens Oma wusste, dass eine große Verantwortung auf ihr lag und war bereit diese Bürde auf sich zu nehmen.
„Und du mein lieber Wolf, was ist dein Begehr?“, wollte sie wissen.
„ Ach nichts weiter“, druckste er herum. „ Es ist nur so, dass ich mich unsterblich in eure Enkelin verliebt habe.“
„Nanu, obwohl sie von euch so unnachgiebig auf menschliches Benehmen bestand?“
„Sie war stur, mutig, selbstbewusst, verlässlich und liebevoll euch gegenüber. Ich bewundere sie, eine bessere Partnerin vermag ich nicht zu finden. Bitte erlaubt, dass ich um ihre Hand anhalte.
Großmutter hätte eine Vermählung zwischen dem Wolf und Rotkäppchen gern gesehen, doch dazu war das Mädchen noch viel zu jung. Außerdem hatten ihre Eltern in dieser Angelegenheit auch noch ein Wörtchen mitzureden. Deshalb beschränkte sich die Magierin  darauf, den ungewöhnlichen Freier in menschlichen Gebräuchen zu unterweisen und falls nötig auch zu verwandeln.

Rotkäppchen war zu einer lebenslustigen jungen Frau herangewachsen, die viele Blicke auf sich zog. Ein junger Mann erregte besonders ihre Aufmerksamkeit. Er sah blendend aus, war gebildet, strahlte vornehme Zurückhaltung aus und schien wohlhabend zu sein. Doch das war es nicht, was sie an ihn so faszinierte. Sah sie in seine Augen, dann kribbelte es an ihrem ganzen Körper bis in die Fußspitzen hinein. Kein Anderer übte solch eine Wirkung auf sie aus, es war einfach unvergleichlich. Das Mädchen beschloss den Blicken des wundersamen Mannes stand zu halten. Sah es darin die urwüchsige Kraft eines verliebten Wolfes, oder den Zauber ihrer Jugend, keiner vermochte es zu sagen. Jedenfalls konnte sie sich kaum von ihm lösen. Ergeben sank sie in seine starken Arme, die ihr Schutz und Anerkennung verhießen. Ja, sie wollte ihn heiraten und da ihre Eltern keine Einwände erhoben, wurde die Ehe sowohl im Himmel, als auch in der Märchenwelt geschlossen.
           

Freitag, 22. Juni 2012

Captain Kitty, Chef der Mäusepolizei, > Captain Kitty lag träge in seiner Hängematte und ließ sich genussvoll die Sonne auf das Fell scheinen. Seine braunweiße Zeichnung speicherte die Wärme der Strahlen und ließ ihn richtig entspannen. Ein Leben lang hatte er sich danach gesehnt einfach nur faulenzen zu können. ohne dass er seinen Arbeitsplatz verlieren würde, oder finanzielle Einbußen hinnehmen musste. Er arbeitete gerne, doch mindestens genauso lieb war ihm die Urlaubszeit. Leider gingen die Tage der Erholung immer viel zu schnell vorüber, dabei ließ ihn der Eindruck nicht los, dass ihm etwas in seinem Urlaub fehlen würde. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was es sein möge. Seufzend fragte er bei anderen Katzen nach wie diese ihren Urlaub verbrachten, aber deren Antwort war auch nicht besonders hilfreich. Die meisten besuchten ihre Eltern, Geschwister oder andere Verwandten. Freudestrahlend berichteten sie von den großartigen Begrüßungen, mit denen sie empfangen wurden. Captain Kitty hatte keine Familie mehr und bedauerte es überhaupt nicht. Er liebte seine Eigenständigkeit. Es hätte ihn sehr gestört, wenn sich jemand erlauben würde sich in sein Leben einzumischen, bloß weil sie denselben Stammbaum hatten. Auf der Suche nach Familienanschluss war er also nicht, aber worauf denn sonst? Etwas fehlte In seinem Leben und dem würde er sich hauptsächlich in seiner freien Zeit widmen können. Doch was war es? Er durfte sich einer beneidenswerten Gesundheit erfreuen, besaß ein schönes Haus, Ansehen bei Jedem, den er kannte und die Katzen wiesen ihn auch nicht ab, wenn er ihnen seine Aufwartung machen wollte. Er hätte ein rundum glücklicher Kater sein können, wenn ihn nicht das bohrende Wissen quälen würde, etwas im Leben zu verpassen. Wie ein Kern in einer Kirschtorte deren unbeschwerten Genuss störte, so versuchte er herauszufinden an was es ihm mangelte. Das Beispiel war ungeeignet um sein wahres Empfinden zu beschreiben, denn Kirschtorten mochte Captain Kitty überhaupt nicht. Mittlerweile hatte er sich damit abgefunden und akzeptiert. Seiner Arbeitszeit ging er weiterhin energiegeladen nach und versuchter voller Tatendrang jeden Wunsch zu erfüllen, der an ihn herangetragen wurde. In die Berufswahl lag sein Geheimnis. Er hatte sein Hobby zur Lebensaufgabe gemacht und war bis zum Captain der Mäusepolizei aufgestiegen. Die Aufgabe schien nicht besonders schwierig zu sein. Hauptsächlich musste er darauf achten, dass unerwünschte Nager keine Vorratsspeicher mit ihren scharfen Zähnen aufbrachen und anfingen den kostbaren Inhalt zu beschmutzen. Hätten sie nur davon gefressen, wäre das noch hinnehmbar gewesen, aber sie beschmutzten den Inhalt zusätzlich mit Kot und Urin, so dass unter Umständen ganze Container der Lebensmittelindustrie entsorgt werden mussten. Das kostete viel Geld und da hörte bei allen Unternehmern der Spaß auf. Solche Verbrechen wurden mit dem sofortigen Tod der gefassten Eindringlinge bestraf. Weil der Captain aber nicht zu gleicher Zeit in jedem Winkel des zu überwachenden Geländes anwesend sein konnte, war er zum Anführer einer großen Horde von Katzen geworden, die sich gerne von ihm leiten ließen. Humorvoll nannten sie sich die Gruppe Mäusepolizei, sie trugen aber keine Uniformen. Jedoch beschäftigten sie ein Sekretariat, damit sie immer erreicht werden konnten. Auch Vögel, wie zum Beispiel Bussarde, halfen ihnen zuweilen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprachen. Nicht immer war es einfach Frieden unter all diesen Individualisten zu gewährleisten, doch Captain Kitty konnte auf eine langjährige Erfahrung im Umgang mit seinen Helfern zurückgreifen. Schließlich hatten alle das gleiche Ziel: Mäuse fangen und verspeisen. So lange dieses Ziel nicht außer Acht gelassen wurde, konnten alle anderen Probleme gelöst werden. Der Kater war bei den übrigen Raubtieren sehr beliebt, weil er keinen seiner Mitarbeiter bevorzugte und manchmal, - auch das konnte vorkommen, - sich schützend vor dem jeweils Schwächeren stellte. Eiserne Regeln mussten eingehalten werden, dafür sorgte Captain Kitty mit vollem Körpereinsatz. Zum Beispiel durften unachtsame Vögel nicht getötet werden, auch wenn sie auf der Speisekarte mancher erfahrenen Katzen standen. Im Gegenzug dazu, landeten auch keine Jungkätzchen im Horst eines voreiligen Jägers der unverhofft aus heiterem Himmel herabstürzte. Wer sich an dieses einfache Friedensabkommen nicht halten wollte, der wurde mit vereinten Kräften aus der ganzen Gegend vertrieben. Keiner konnte sich einen besseren, vertrauenswürdigeren und zuverlässigeren Chef der Mäusepolizei vorstellen. Nicht nur aus diesem Grund flossen Tränen, als er in seinen wohl verdienten Ruhestand ging. Egal wie mutig, kräftig und erfahren ein Tier ist, einmal kommt der Tag, an dem es nicht mehr gebraucht und abgeschoben wird. Jeder war ersetzbar, auch wenn man diese Tatsache nur allzu gerne verdrängte. Augenblicklich beschäftigte sich die Gruppe mit dem Gedanken, wer war als sein Nachfolger vorgesehen war. Hatte jemand einen geeigneten Kater im Sinn? Konnte man sich für die frei gewordene Stelle bewerben und wenn ja, wo? Oder würde ein neuer Captain gewählt werden? Er musste auch so gut mit den Mitarbeitern umgehen können und durfte kein arroganter Postenreiter sein, der es nicht verstand genügend Nachfolgeaufträge an Land zu ziehen. Oder löste sich die Mäusepolizei nun ganz auf? Fragen über Fragen häuften sich auf. Alle waren gleich wichtig, doch keiner konnte sie beantworten. „Ach Captain Kitty, was sollen wir nur ohne Sie anfangen?“, schluchzte seine ehemalige Sekretärin Lady Carmen beim Abschied. Sie war eine echte Kathäuser Katze mit wunderbar blauem Fell und hellgelben Augen, die wie Bernsteine funkelten. Eine richtige Dame eben, die ihre vornehme Herkunft nicht verleugnen konnte, ohne arrogant zu werden. Lange schon war sie in Captain Kitty verliebt und hatte immer gehofft, dass er mehr in ihr sehen würde, als eine bloße Schreibkraft. Doch da sie keine Kinder bekommen konnte und den unwiderstehlichen Duft nicht verströmte, war sie trotz ihres hinreißenden Aussehens für ihn uninteressant geblieben. „Kopf hoch meine Liebe, macht einfach weiter wie bisher“, tröstete der Angesprochene die treue Seele. Sie wird ihn vermissen, das ließ ihre zittrige Stimme eindeutig erkennen. Solch wehmütige Erinnerungen an seine Amtszeit ließen ihn nicht mehr los. Viel zu früh musste er in Rente gehen, dabei strotze er immer noch vor Saft und Kraft. Stürmisches Klingen riss Captain Kitty aus seinen Gedanken heraus. „Nicht so eilig mit den jungen Pferden, ich komm ja schon“, rief er auf dem Weg zur Haustür. Ein Mitarbeiter der Mäusepolizei begehrte Einlass. Verwundert öffnete sein ehemaliger Vorgesetzter die Tür. „Was ist denn jetzt schon wieder los Carlos. Warum können Sie mich keinen einzigen Tag in Ruhe lassen? Gestern noch war ich im Büro anzutreffen und hätte mich gerne mit Ihren Problemen befasst. Aber ab heute bin ich nur noch Privat- Kater, wenn auch gezwungener Maßen.“, sagte er bedauernd. „Tut mir leid Sir, aber wir brauchen Sie dringend. Was geschehen ist duldet keinen Aufschub. Nur Sie haben die richtigen Verbindungen, um eine Katastrophe zu verhindern.“, stammelte der junge Sergeant aufgeregt. Captain Kitty wollte schon darauf hinweisen, dass ihn die Belange seiner früheren Dienststelle nichts mehr angingen, war aber war dann doch geschmeichelt, trotz seines Ruhestandes, von den früheren Kollegen gebraucht zu werden. Bereitwillig hörte er sich an, welches Problem ohne ihn nicht gelöst werden konnte. „Ach Captain, es ist etwas furchtbares Geschehen.“ „Sagen Sie bloß, die Mäuse wären ihrer Opferrolle leid geworden und fangen an sich zu wehren?“, fragte der Kater mit breitem Schmunzeln. „Nein, nein, das meinte ich nicht. Es sind Menschen, die uns Sorgen bereiten.“ „Nanu. Darauf wäre ich jetzt wirklich nicht gekommen. Menschen hegen und pflegen uns in diesem Land seit wir denken können. So manches Milchschälchen stellen sie nur hin, damit wir in ihrer Nähe bleiben. Wenn sie uns antreffen, dann möchten sie uns immerzu streicheln.“ Captain Kitty geriet ins Schwärmen. „Sagen Sie Carlos, sind Sie schon einmal von einer Menschenhand ausgiebig gestreichelt worden?“ „N… Nein. Na ja, nicht so richtig. Eine Frau fuhr mir Mal mit ihrer Tatze über den Rücken, als ich nicht schnell genug weggerannt bin.“ „Und, was haben Sie dabei empfunden?“ „Angst habe ich gehabt, schreckliche Angst.“ „Hatte diese Frau Sie bedroht, einfangen wollen oder laut ausgeschimpft?“ „Nein, das tat sie nicht.“ „Warum fürchteten Sie sich dann vor ihr?“ „Weil Menschen so groß sind und enorm viel können. Sie sind meiner Meinung nach einfach unberechenbar.“ „Aber nicht böse.“ „Oh doch. Sie wissen noch nicht, was sich Menschen erst vor Kurzem ausgedacht haben. Die ganze Mäusepolizei gerät deswegen in Gefahr, wir werden alle arbeitslos. Auch Ihre Rente kann bald niemand mehr auszahlen, wenn wir zu Hause bleiben müssen und keine Gelder von zufriedenen Kunden mehr eingehen. Wenn das nicht böse ist was dann?“ Neugierig geworden fragte Captain Kitty nach, von was er eigentlich sprechen würde. „Von einem Gesetzesentwurf, der in Vorbereitung ist. Zum Schutze aller Tiere und Autofahrer, sollen Katzen nicht mehr frei herumlaufen dürfen. Sie hätten Mal sehen sollen, welche Feste Mäuse feierten, als unter ihnen bekannt wurde, was Menschen vorhaben. Gesang und Trommelfeuer erklang aus jeder Häuserecke. Obwohl wir immer noch jagten, versteckte sich keine Maus mehr vor uns. Schlimmer noch, sie sind furchtbar frech geworden und strecken uns die Zunge raus, wenn wir angreifen wollen. Mich kannst Du vielleicht kriegen, aber meine Kinder sind vor Dir in Sicherheit. Es leben die Tierschützer, riefen sie schadenfreudig und lachten uns aus. Keine Katz mag, wenn sie ausgelacht wird, egal von wem. Aber das wissen Sie ja selbst. Ich sage Ihnen, es gibt keinen Respekt mehr unter den Mäusen. Manche Kollegen mussten bereits ärztlich behandelt werden, sie hielten die ungeheuerlichen Demütigungen ihrer ehemaligen Opfer einfach nicht mehr aus. Haben Sie denn gar nichts davon mitbekommen?“ „Das ist ja zum Mäusemelken!“, rief Captain Kitty in höchster Erregung. Mäusemelken war der schlimmste Ausdruck den er sich vorstellen konnte. Nur wenige Mitarbeiter hatten ihn jemals in diesen Tönen schimpfen hören. Doch dieses Mal musste er seine Entrüstung zum Ausdruck bringen. Während seines gesamten Dienstes hatte er so etwas Unglaubliches nicht erleben müssen. Immer waren Katzen gefürchtete Feinde von Mäusen und nun sollte diese naturgegebene Ordnung auf einmal nicht mehr gelten? Nein! So etwas war undenkbar. Dem musste unbedingt ein Riegel davor geschoben werden. „Sie haben ganz richtig gehandelt, mich um Hilfe zu bitten, mein lieber Carlos.“, meinte der Captain anerkennend und klopfte dem schüchternen Sergeant wohlwollend auf die Schultern. „Niemand hat bisher so viele Beziehungen zu Menschen aufbauen können, wie ich. Da sämtliche Gesetze, auch die an denen wir uns halten müssen, allein von Menschen gemacht werden, können auch nur sie dieses Vorhaben verhindern. Wir werden bei der Gesetzgebung nicht gefragt, sondern müssen hinnehmen was kommt.“ „Aus Ihrem Mund klingt das gerade so, als hätten Sie eine Idee?“, fragte Carlos hoffnungsvoll. Ihm war anzusehen wie sehr er darunter litt, von seinem Lieblingsfutter nicht mehr gefürchtet zu werden. „Hab ich auch, doch zuvor benötige ich alle Informationen, die Sie mir geben können.“ „Die haben Sie doch schon. Was wollen Sie denn noch wissen?“ „Zum Beispiel weiß ich immer noch nicht, was es mit Autofahren zu tun hat, wenn wir eingesperrt sind.“ „ Ganz einfach. Nehmen wir einmal an, unser Bruder oder Schwester rennt über die Straße und ein Autofahrer hat es gesehen. Dann kann es zu einem Unfall kommen, weil er ausweichen will. Rast er gegen ein Hindernis, ist sein Auto kaputt.“ „Die Katze aber ist schwer verletzt, oder im schlimmsten Fall tot.“ „Ich sehe, Sie wissen, was ich meine.“ „Nein weiß ich nicht. Helfen Sie mir bitte auf die Sprünge?“ „Die Tatsache, dass Unfälle von freilaufenden Katzen ausgelöst werden können, wird zum Anlass genommen unsere Freiheit zu verbieten. Bei Hunden war ein ähnliches Gesetz schon sehr erfolgreich. Heute läuft kein Hund mehr ohne von seinem Herrchen an der Leine geführt zu werden herum. Dieses Gesetz will man nun auch auf Katzen anwenden. Zu allem Übel halten sich solche Leute auch noch für wahre Tierfreunde. Nichts anderes, als die Unversehrtheit von Lebewesen haben sie im Sinn. Dagegen ist schwer etwas zu sagen.“ „Dabei wurde jedoch ganz vergessen, dass manche Hunde Menschen angefallen haben und fürchterlich verletzten, ohne dass es einen Grund dafür gab. Oft genug endeten solche Attacken im Hospital. Haben Sie schon einmal gehört Kinder oder ältere Leute wären von einer Katze Krankenhausreif gebissen worden?“ „Nein, niemals. Mehr als ein paar Kratzer dürfte noch keiner davongetragen haben, wenn wir uns gegen allzu grobe Behandlung wehren mussten und solche Schrammen heilen schnell.“ „Trotzdem sind manche Menschen ganz begeistert von diesem Entwurf. Sie wollen gleiche Bedingungen für ihre Haustiere. Dass sich nur Hundebesitzer dafür stark machen halten sie für reinen Zufall. Alles Andere sei üble Nachrede. „Hm. Mal sehen, was Betreiber von Getreidemühlen und Großbäckereien dazu sagen. Diese Unternehmer waren bisher unsere besten Auftraggeber und haben in der Menschenwelt hohes Ansehen. In dieser Angelegenheit ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen worden, darauf können Sie sich verlassen.“ Einigermaßen beruhigt verließ Sergeant Carlos das Haus. Er hatte getan was er konnte, mehr ging nicht. Kurz nach dem Besuch machte sich Captain Kitty auf den Weg zur Mäusepolizei und stürmte ins Sekretariat. „Hallo Lady Carmen können Sie mir eine Verbindung mit Herrn Schneider von der Ebenhardter Mühle herstellen? Ich könnte auch von zu Hause aus anrufen, aber wenn Sie das für mich tun, dann klingt das viel offizieller.“ Gern erklärte sich die Sekretärin dazu bereit. Den ganzen Tag lang hatte sie noch nichts zu tun gehabt und ihr war langweilig. „Eilt es?“, fragte sie mit wissendem Lächeln. „Wie immer. Lassen Sie sich um Himmels Willen nicht vertrösten. Erzählen Sie etwas von traumatisierten Mitarbeitern und dem Versprechen, das Herr Schneider mir einst gab. Ich bleibe hier bis Herr Schneider Ihnen gesagt hat, wann er mich empfängt.“ Routiniert hob Lady Carmen den Hörer ab und sprach einige Minuten darauf mit der gewünschten Person. Welch eine Stimme. So eine charmante Katze würde ich auch nicht abwimmeln. Warum habe ich nicht früher bemerkt, was für ein wunderbares Wesen im Vorzimmer sitzt? Lady Carmen ist die Seele der ganzen Dienststelle und ich blöder Schnurrbartwackler bildete mir immer ein, ich wäre es. „Wenn Sie sich sofort auf den Weg machen könnten, hätte Herr Schneider Zeit für Sie“, riss Lady Carmen den verwunderten Kater aus seinen Gedanken heraus. „Sagen Sie ihm, dass ich komme.“ Mit einem Kuss auf der Stirn wollte er sich bei ihr bedanken und aus dem Büro herauseilen, drehte sich an der Tür jedoch noch einmal um. „Sagen Sie Lady Carmen, kennen Sie Herrn Schneider eigentlich von Angesicht zu Angesicht?“ „Nein, nur von Telefon her. Er muss aber sehr sympathisch sein, das erkenne ich daran, wie er mit mir redet aber warum fragen Sie?“ „Ach Nichts, ich hatte nur den Eindruck, weil Sie so vertraut miteinander reden. Wollen Sie ihm einmal persönlich gegenüberstehen?“ „Meinen Sie das wäre möglich?“ „Warum nicht? Vorausgesetz, Sie können hier weg.“ „Ich denke es wird niemand merken, wenn ich nicht am Telefon sitze. Seit Sie nicht mehr da sind ist im Büro sowieso nichts mehr los. Wenn ich den Anrufbeantworter einschalte, reicht das völlig aus.“ „So schnell macht sich bemerkbar, dass ich in Rente gegangen bin? Kaum zu glauben. Worauf warten wir dann noch? Die Arbeit ruft. Los geht’s, auf zu Herrn Schneider!“ Lächelnd streckte Captain Kitty seine Pfote der aufgeregten Sekretärin entgegen und verließ mit ihr im Schlepptau das Gebäude der Mäusepolizei. Die Ebenhardter Mühle lief auf Hochtouren. Lastwagen standen Schlange, um feinstes Mehl in ihre Spezialbehälter geblasen zu bekommen. Goldene Griffe an Bürotüren verrieten Luxus pur. Lady Carmen war tief beeindruckt. In dieser modernen Anlage sollten sich Mäuse herumtreiben? Das war kaum vorstellbar und doch mussten auch dort diese Nager bekämpft werden. Herr Schneider ging hocherfreut auf Captain Kitty zu. Mit ihm hatte er immer gerne Geschäfte gemacht. Selten fand er einen Partner, der so zuverlässig war. „Was musste ich von traumatisierten Katzen hören?“, fragte er schmunzelnd. Daraufhin klagte der Mäusepolizist sein Leid. Erst hörte der Geschäftsmann nur mit halbem Ohr zu, denn was ging ihn der Seelenzustand von fremden Katzen an. Als der Captain aber die unmittelbaren Konsequenzen zur Sprache brachte und den Ausfall ganzer Produktionstage in Aussicht stellte, weil sich Mäusedreck im Mehl befand, war Herr Schneider wie elektrisiert. „Sie haben Recht Captain, so ein Gesetz muss unbedingt verhindert werden. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und dass Sie zu mir gekommen sind.“ Danach entschuldigte sich Herr Schneider, er hätte einige dringende Anrufe zu tätigen. Captain Kitty und seine Begleitung wollten sich schon diskret zurückziehen, wurden aber mit Handzeichen zurückgehalten. „Bleiben Sie nur hier, dann kann ich Ihnen sofort berichten, was gegen wir in dieser Angelegenheit tun werden.“ „Wir?“, fragte de Mäusepolizist. „Selbstverständlich wir. Ich muss doch auch andere Firmeninhaber von einer drohenden Mäuseplage unterrichten. Gemeinsam sind wir stark. Lassen Sie mich nur machen. Zusammen bekommen wir das schon hin.“ Dann rief Herr Schneider seine Sekretärin. „Frau Klein, bieten Sie doch bitte unseren Gästen eine kleine Erfrischung an.“ Eine junge, hochgewachsene Frau mit blonden kurz geschnittenen Haaren betrat den Raum und wandte sich den beiden Katzen zu. „Was darf ich Ihnen bringen Tee oder Kaffee?“ „Nein Danke, aber wenn Sie etwas Milch für uns hätten, das wäre nett.“, schaltete sich Lady Carmen ein. Die Sekretärin entschuldigte sich wegen ihrer Gedankenlosigkeit und kam zehn Minuten später mit einem Tablett wieder, auf dem zwei Glasschälchen standen, die randvoll mit leckerer Milch gefüllt waren. Die beiden Katzen hatten ihre Milch noch nicht richtig aufgeleckt, da kam Herr Schneider mit zuversichtlicher Miene auf sie zu. „Ich kann Sie beruhigen, der Gesetzesentwurf wird verworfen werden. Wo kämen wir denn hin, wenn Politiker ihre Vorstellungen vor wirtschaftlichen Notwendigkeiten stellen könnten? In welchem Land leben die eigentlich? Noch ist zum Glück nichts passiert, denn es war ja nur von einem Entwurf die Rede. Der wird zurückgezogen, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Die Öffentlichkeit erfährt davon nichts, wie immer.“ Nachdem die Anspannung von Herrn Schneider gewichen war, schaut er bewundernd auf Lady Carmen. „So edle Begleitung habe ich Ihnen gar nicht zugetraut Captain Kitty, Sie überraschen mich immer wieder.“ Lady Carmen fragte er, welcher Familie sie angehören würde. In dieser Gegend hatte er noch nie so eine Schönheit gesehen. „Ich bin eine Kathäuser Katze russisch blau“, antwortete sie geschmeichelt. Es entwickelte sich ein Gespräch aus Nettigkeiten, bei dem Lady Carmen den Unternehmer gekonnt um ihre eingezogene Kralle wickelte. Plötzlich spürte der Captain einen Stich in der Herzgegend, den er noch nicht kannte. Er war eifersüchtig geworden. Was wollte seine ehemalige Sekretärin mit einem Menschen anfangen? So etwas konnte doch niemals gut gehen und das wusste sie auch. Doch warum flirtete sie mit ihm dann so hemmungslos mit ihm herum? Er konnte sich das Geturtel der Beiden nicht länger anhören und gab vor, an diesem Tag noch einen wichtigen Termin wahrnehmen zu müssen. Augenblicklich verabschiedete sich Herr Schneider von seinen Besuchern. Auf dem Weg nach Hause, beglückwünschte ihn Lady Carmen zu dem großen Erfolg. Eine große Last war von den Schultern des Captains gefallen. Er hatte die Katzenwelt vor großem Schaden bewahrt und konnte zu Recht stolz darauf sein. Wie gewohnt legte sich Captain Kitty gemütlich in seiner Hängematte und genoss den Sonnenschein. Dass Lady Carmen in sein Leben getreten war, sah er als gütige Fügung des Schicksals an. Sie kümmerte sich rührend um ihn und öffnete ihm die Augen, Endlich wusste der Captain wonach er immer gesucht hatte. Es war Kultur gewesen, von der er bisher nichts wissen wollte. Doch dass sie sich mit solcher Macht bei ihm melden würde, hätte er nicht gedacht. Gemeinsam mit seiner neuen Partnerin gingen sie in Museen, lasen Bücher, die gebildete Katzen kennen sollten, sie gingen ins Konzert und zur Not auch in die Oper. Opernbesuche waren für Captain Kitty ein Graus, er konnte diese Katzenmusik nicht leiden. Sie tat ihm in den Ohren weh. Aber um Lady Carmen einen Gefallen zu tun, ließ er auch das über sich ergehen. Lady Carmen war Kultur- besessen und er ihr williger Schüler. Damit sein Leidensdruck nicht zu groß wurde, besuchten sie auch historische Baudenkmäler, Burgen oder Schlösser. Hey, war das ein Spaß in und um diese Gebäude herumzuklettern. Am liebsten waren Captain Kitty Ruinen, auch wenn er ständig aufpassen musste auf keinem lockeren Stein zu treten und sich zu verletzen. Als Wegzehrung fingen sie sich schnell ein paar Mäuse, die auch dort zu finden waren. Herr Schneider hatte sein Ehrenwort gehalten, von rebellischen und angstfreien Mäusen war keine Spur mehr zu sehen. Hatte es sie jemals gegeben, oder gehörte diese Geschichte auch nur zu den vielen Legenden, die sich um Captain Kitty rankten? Er wusste es nicht, ihm war keine freche Maus begegnet. Alle rannten um ihr Leben wenn sie ihn sahen und das war auch gut so. Von Lady Carmen wollte er sich nie mehr trennen. Sie war gerade dabei ihm eine vornehmere Ausdrucksweise anzugewöhnen. Wenn er diese letzte Hürde meistern konnte, dann öffneten sich Türen zur besseren Gesellschaft, die zuvor immer für ihn geschlossen blieben. Liebevoll schaute er seine Partnerin an. In Anbetracht seiner Verdienste wird sie darauf hinwirken, dass man ihn an höchster Stelle zum Sir Captain ernennt. Lady Carmen spürte seinen Blick. Ein leichtes Kribbeln durchfuhr ihren ganzen Körper. Danach hatte sie sich immer gesehnt. Wie es sich für eine Dame geziemt, ging sie zu ihrem Angebeteten und ergriff schüchtern seine Pfote. Zu zweit konnte das Leben wundervoll sein.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Drachenaufzucht
Gernot Sommerwein wohnte mit seiner Familie auf einem Gehöft, das etwas abgelegen von der nächsten Ansiedlung, am Fuße des Drachenfelsens lag. Er war Biologe und sehr Naturverbunden. Seine Frau Iris teilte mit ihm die gleiche Leidenschaft für heimische Pflanzen und Tiere. Beide waren froh gewesen, dieses große und für ihre finanziellen Verhältnisse bezahlbare Anwesen gefunden zu haben. Ihr Sohn David störte es nicht, dass er den weiten Weg zur Schule mit dem Fahrrad zurücklegen musste. Jeden Morgen genoss er den frischen Wind, der ihm dabei um die Nase wehte. Im Winter aber und bei Regenwetter, spielte seine Mutter lieber Familientaxi, als dass ihr Sohn krank wurde, oder unnötiger Weise in Gefahr geriet. David streifte liebend gerne in der Gegend umher. Bei einem seiner Spaziergänge entdeckte er zerbrochene Eischalen in deren Mitte ein merkwürdiges Wesen saß. Es hatte keinen Flaum, wie andere Kücken, die gerade geschlüpft waren, sondern goldgelbe Schuppen bedeckten seinen Körper. Auch besaß es keinen Schnabel. Stattdessen endete sein keilförmiger Kopf mit einer weichen Schnauze, aus der ein spitzes Horn ragte. An den Füßen waren ihm Schwimmflossen gewachsen, welche gar nicht zu den fledermausähnlichen Flügeln passen wollten. Mit seinem langen, fingerdicken Schwanz wedelte es aufgeregt hin und her. Noch nie hatte David etwas Ähnliches gesehen und wagte auch nicht zu bestimmen, was für ein Tier es sein könne. Zwar kam ein wager Verdacht in ihm auf, doch den schob er ganz schnell wieder bei Seite. So etwas ganz und gar Unmögliches erlaubte er sich nicht einmal zu denken. Langsam beugte sich David zu dem Wesen nieder, um es aufzuheben. Jeden Moment rechnete er damit gebissen zu werden, doch nichts geschah. Dem Kleinen schien die Wärme seiner menschlichen Hand zu gefallen. Vertrauensvoll schmiegte es sich eng in die geformte Mulde hinein. Zutiefst gerührt nannte David das Findelkind „kleiner Herzensdieb“ und eilte mit ihm nach Hause. Iris wollte ihren Sohn ausschimpfen, weil er trotz aller Ermahnungen ein aus dem Nest gefallenes Kücken angefasst hatte. Erst auf dem zweiten Blick erkannte sie, dass David gar kein Kücken in Händen hielt. Das gefundene Drachenbaby entzückte sie so sehr, dass sie keinen Zweifel über seine Art aufkommen ließ. Wer wolle behaupten es gäbe keine Drachen, wenn sie ihn direkt vor Augen hatte? Außerdem wohnten sie am Drachenfelsen, was der Briefträger jeder Zeit bestätigen konnte. Warum wohl wurde diese Steinformation so bezeichnet? War das etwa kein Hinweis, dass vor langer Zeit Drachen diesen Felsen umkreisten? Klägliches Krächzen riss Iris aus ihren Gedanken heraus. Das Baby hatte Hunger. Fragend sah Iris ihren Sohn an. Womit fütterte man Drachen? Ein kurzer Blick ins Internet konnte ihr auch keine zufriedenstellende Auskunft geben. Alles Mögliche erschien durch die Hilfe von Google auf dem Monitor, wenn man den Suchbegriff Drachenbaby eingab, nur keine Ernährungshinweise. David vermutete, dass es Würmer oder Maden fressen würde, was sie natürlich nicht im Haus vorrätig hatten. Eilig radelte er ins Dorf, um in einem Anglergeschäft Mehlwürmer zu kaufen. Während ihr Sohn unterwegs war, dachte Iris darüber nach, womit sie dem Kleinen einen Platz, bereiten könne, auf dem es sicher und bequem lag. Die Schublade eines alten Schranks, der seine besten Zeiten längst hinter sich gelassen hatte, war ihrer Meinung nach eine geeignete Unterlage. Ausgelegt mit alten Zeitungen würde es eine Weile mit diesem Notbehelf gehen, bis eine andere Lösung gefunden wurde. Zu Hause angekommen bestand David darauf, die ersten Fütterungsversuche zu machen, doch das Drachenbaby spuckte alles sofort wieder aus. Die Enttäuschung war riesengroß. Ratlos überließ er seiner Mutter die Ernährung. Iris dachte sich ganz unprofessionell, womit sie ihren Sohn großgezogen hatte, das könne auch dem kleinen Drachen nicht schaden. Ohne sich gegenüber ihrem Mann rechtfertigen zu müssen kochte sie Griesbrei, fügte extra viel Zucker hinzu, rührt ihn im Wasserbad kalt und hob dann noch ein rohes Ei unter. Mit dieser Kalorienbombe bewaffnet trat sie an den hungrigen Schreihals heran. Siehe da, der Brei schmeckte ihm. Er fraß, bis sein kleiner Magen nichts mehr aufnehmen konnte. Müde sank danach der schlangenartige Kopf auf das frisch gemachte Lager und kurz danach schlief der fremde Gast ein. Die Ruhepause kam David und Iris sehr gelegen, sie konnten die Zeit nutzen um sich zu überlegen wie es nun weitergehen sollte. Iris wollte, dass ihr Mann ein Wörtchen mitzureden habe, denn schließlich sei er als Biologe gewissermaßen vom Fach und könne wertvolle Ratschläge geben. David protestierte heftig und meinte weil er das Tier gefunden habe, würde es ihm auch gehören. Seine Mutter hielt dagegen, es wäre falsch ein Lebewesen als Eigentum anzusehen, es sei doch kein Gegenstand. Sie stritten über die sich ergebene Verantwortung und Kosten, die bei der Aufzucht anfallen würden. Nicht immer waren die Worte so böse gemeint, wie sie klangen. Als Gernot Sommerwein nach Hause kam, waren die Gemüter von Mutter und Sohn immer noch stark erhitzt. Verwundert fragte er nach, was den Stein des Anstoßes gegeben haben mochte. Ohne zu antworten zog Iris ihren Mann in die Ecke, wo das Drachenbaby ruhte. Wenn es jemals etwas gab, das Gernot die Sprache verschlagen hatte, dann war es dieser Anblick. Fasziniert kniete er nieder und berührte sanft das schlafende Tier. Es erwachte und schmiegte sich sogleich an Gernots Hand an. Dies nutzte er als gute Gelegenheit um zu betasten, was er mit eigenen Augen sah. In Gedanken erschien er schon auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen, die ihn als Entdecker einer Fleischgewordenen Sagengestalt feierten. Ruhm, ein Ehrendoktortitel und viel Geld wären ihm gewiss. Doch dann stellte sich Gernot vor, was Forscher und solche die sich dafür hielten, mit dem kleinen Kerl anstellen würden. Im Dienste der Wissenschaft müsste das Drachenkind viele Qualen erleiden, bis es endlich sterben würde. So etwas wollte er keinesfalls zulassen. Tief seufzend verabschiedet er sich von seinen Träumen, stand auf und sagte, dass sie die Anwesenheit des jungen Drachen unbedingt Geheim halten müssen. Niemand dürfe erfahren, welches Tier sie im Haus aufziehen würden, das Leben des Kleinen hinge von ihrer Verschwiegenheit ab. An Eindringlichkeit ließ es Gernot nicht mangeln. Zur Unterstützung seiner Rede malte er seiner Familie vor Augen, welche wissenschaftlich begründete Folter dem Drachen sonst bevorstehen würde. Erschrocken versprachen Iris und David sofort, niemanden etwas zu sagen und auch keine Fotos im Internet zu veröffentlichen. Der Mutter fiel das Versprechen leicht, doch David bedauerte es im Nachhinein. Musste sein Vater immer gleich so schwarz sehen? Woher wollte er eigentlich wissen, was geschehen würde? Er hatte sich schon so darauf gefreut mit seiner Webcam ein Video bei You tube ins Netz zu stellen und mehrere tausend Hits zu bekommen. Damit wäre er bestimmt ein Star in seiner Schule geworden. Doch mit diesen Schreckensbildern im Kopf hatte sein Vater ihm jede Freude wieder versaut. Gernot stellte mit Iris gemeinsam den Speiseplan des Drachenbabys um. Anstatt Griesbrei würde ihr Zögling in Zukunft rohes Ei, Hackfleisch, oder auch zerkleinerten Fisch zu fressen bekommen. Auch einen Namen bekam er. Draco war die lateinische Bezeichnung für Drachen. Gernot fand es ganz passend, das Tierchen so zu nennen. Weil Draco leicht zu merken war, hatten weder Iris, noch David etwas dagegen. Jeder der Sommerweins tat sein Möglichstes, um den kleinen Drachen großzuziehen und dieser dankte es ihnen immer wieder mit bewegendem Zeigen seiner Zuneigung. Niemand in der Familie mochte sich noch vorstellen, ohne ihn zu sein. Doch Drachen wachsen schnell heran und lernen begierig. Die Sprache seiner Pflegeeltern beherrschte er schon nach sechs Monaten und das Fliegen schaute er sich von den Vögeln ab. Fehlte nur noch, dass er Davids Computer in Beschlag nahm, aber soweit kam es nicht mehr. Gernot begann seine Familie schonend darauf vorzubereiten, dass Draco nicht mehr lange bei ihnen bleiben könne. Mittlerweile war der Drache so groß geworden, dass trotz aller Vorsicht, seine Anwesenheit kaum noch verheimlicht werden konnte. Auch ihm war das intelligente Wesen aus der Sagenwelt ans Herz gewachsen, deshalb schob er den notwendigen Abschied immer weiter hinaus. Wer sollte es Draco sagen? Jeder in der Familie drückte sich davor. An einem herrlich warmen Sommerabend, sie saßen alle mit bleiernem Schweigen beisammen, erhob sich plötzlich der Drache und sprach mit krächzender Stimme, er müsse endlich zu den Seinen. Schon lange habe er sie nach ihm rufen gehört. Es dränge ihm zu ihnen zu fliegen, doch er wollte nicht undankbar sein, nur deshalb sei er noch da. Erleichtert sprangen Iris, Gernot und David auf. Ein Kilo schwerer Stein hatte auf ihrer Brust gelegen, doch nun waren sie von dieser Last befreit worden. Sie fielen dem erstaunten Redner um den Hals und erzählten ihm von dem Problem, das sie seit einigen Tagen quälte. Draco war auch froh, hatte er doch erwartet, mit heißen Tränen und unerfüllbaren Bitten zurückgehalten zu werden. So war ihm seine Familie viel lieber. Sie unterhielten sich und scherzten ein letztes Mal miteinander, dann breitete Draco seine Schwingen aus und erhob sich in den Himmel. Dreizehn Jahre lang hatte die Familie Sommerwein von Draco weder etwas gesehen, noch gehört. Sie beruhigten sich damit, dass dies ein gutes Zeichen sein müsse, trotzdem waren sie von ihm enttäuscht. All ihre Liebe und Fürsorge hatte er jahrelang genossen und nun sollten sie ihm noch nicht einmal den kleinsten Gruß wert sein? Kurzes Winken im Vorbeifliegen hätte ihnen schon genügt, aber auch darauf warteten sie vergebens. Es war im Vorfrühling, kurz nach der Tagesschau, als Draco vor ihrer Haustür stand. Seine Zieheltern freuten sich riesig ihn zu sehen. Bevor sie ihn mit Fragen überhäufen konnten bat Drago seinen Ziehvater, mit ihm einen Ausflug zu machen und Licht mitzunehmen. Gernot erklärte sich hocherfreut dazu bereit, die Taschenlampe steckte er gleich in einer seitlichen Hosentasche. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen die Frage wörtlich zu nehmen. Erst als Draco seinen Kopf flach auf den Boden legte, wurde ihm mulmig zumute. Als ob ihm Schuppen von den Augen fiel, wurde ihm schlagartig klar, worauf er sich eingelassen hatte. Doch er brachte es nicht fertig, im letzten Moment noch einen Rückzieher zu machen. Bisher hatte er immer Wort gehalten, so wollte er es auch dieses Mal nicht brechen. Todesmutig hob er sein rechtes Bein über den dargebotenen Hals. Draco erhob sich ganz vorsichtig, immer darauf immer darauf bedacht, dass sein Vater nicht von den Schultern glitt. Nach den ersten Minuten gewann Gernot seine Sicherheit zurück. Mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelnd rief er Iris euphorisch zu, er sei nun ein Drachenreiter und wie wundervoll sich das anfühlen würde. Diesem Glücksgefühl bereitete Draco ein schnelles Ende. Er fragte kurz „fertig?“, Gernot bestätigte die Frage und danach erhob sich der Drache in die Luft. Höher und höher stieg er mit seinem menschlichen Vater auf. Als sie auf einem Vorsprung des Drachenfelsens landeten, zitterten Gernots Knie vor Aufregung. Die Erde lag so weit unter ihnen, dass es Mühe machte Häuser und Landschaften auszumachen. Verwundert sah er, wie Draco mit seinen kraftvollen Hinterbeinen einen Felsbrocken zur Seite drückte. Dahinter wurde eine Höhle sichtbar. Gernot dachte erst dort würden sich die anderen Drachen verstecken, doch beim Nähertreten sah er, dass der Raum mit Goldgegenständen angefüllt war. Im Schein der mitgebrachten Taschenlampe glänzten Ringe, Becher, Ketten, Münzen und Statuen über- und nebeneinander. Dies alles wollte Draco ihm schenken. Seine Verwandten hatten den Schatz über viele Jahrhunderte hinweg zusammengetragen. Kriege wurden deswegen geführt und Königreiche gestürzt. Nur einem weisen Mann wie er es war, könne er so großen Reichtum anvertrauen. Gernot fühlte sich geehrt doch lehnte es ab diesen Schatz zu besitzen. Blut klebte an ihm und damit wollte er nichts zu tun haben. Sein Schatz wartete zu Hause auf ihn und hatte bestimmt ein leckeres Essen zubereitet. Er bat Draco den Eingang wieder gewissenhaft zu verschließen, damit kein Bergsteiger ihn durch Zufall entdecken könne. Draco war ein bisschen enttäuscht, weil sein Geschenk nicht angenommen wurde. Doch als er seinen Ziehvater nach Hause gebracht hatte und die tiefe Liebe des Ehepaares spürte, fing er an zu verstehen.